Fabiu und Adrian, Eugen und Petre, Samim und Imud – sie sind Bauarbeiter, Arbeiter in Schlachthöfen und LKW-Fahrer. In „Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern“ (Hirzel Verlag, 2024) erzählt Sascha Lübbe ihre Geschichten. Er versteht das Buch als eine „Reise zu ihnen, zu den Menschen in Deutschland, die auf der untersten Stufe der Pyramide und sonst nicht im Fokus stehen“.
Statt von außen auf ein verstricktes und unübersichtliches System zu blicken, kommt Sascha Lübbe mit den Menschen ins Gespräch, die täglich unter prekären Bedingungen in diesem arbeiten. Er spricht sie vor den Fabriken an, besucht sie in ihren Unterkünften, spricht mit denen, die sich gegen ihre Chef*innen zur Wehr gesetzt haben oder sich aus Angst vor einer Kündigung dagegen entschieden. Nur weibliche Perspektiven fehlen dem Buch, die vielfältigere Einblicke gegeben hätten.
Die Geschichte von Fabiu
Da ist zum Beispiel Fabiu, den er in einer Unterkunft trifft, in der mehrere Bauarbeitende zusammenleben. Fabiu ist aus Rumänien nach Deutschland gekommen, um für seine Familie zuhause Geld zu verdienen. Er arbeitet seit neuen Jahren als Maurer auf Baustellen, musste immer wieder das Unternehmen wechseln. Er arbeitet sechs Tage die Woche, ungefähr zehn Stunden am Tag, seinen Lohn bekommt er nur zum Teil offiziell ausgezahlt, den Rest schwarz. Dadurch wird ihm weniger für die Rente angerechnet, bei Krankenversicherungen wird er auch nicht von allen Chefs angemeldet. Urlaub hatte Fabiu noch nie.
Um all diese Erfahrungen auch einzuordnen, zieht Sascha Lübbe in journalistischer Manier Wissenschaftler*innen, Berater*innen von NGOs und Unternehmer*innen für die Recherche heran. Er erklärt, wie das System Arbeitsmarkt kontrolliert wird (ausbaufähig), welche Rolle Politik, Lobbyismus und Gesellschaft spielen (egoistisch und ignorant), warum Geld wichtiger ist als die Arbeiter*innen (Kapitalismus) und wer die Menschen sind, die unterstützen und Widerstand leisten (wichtig, aber wenige).
Es sind keine Einzelfälle, die das Buch erzählt
Dabei wird deutlich: Ob Bau, Fleischproduktion, Transport – diese Industrien basieren auf einem Netz von Illegalität, Ausbeutung von Arbeitnehmer*innen und mangelnder Kontrollen. Und das Buch lässt erahnen, dass viele Branchen so funktionieren. Spätestens im Kapitel „Die Gesellschaft, die Politik“ wird man dann ertappt, hat man sich bis dato auf der Frage „Was sollen wir dagegen tun?“ ausgeruht. Das Buch benennt all jene Akteur*innen, die Antworten auf diese Frage finden sollten und spart auch unsere Gesellschaft dabei nicht aus.
Nur angedeutet wird aber, was mit den Menschen passiert, würde das System abgeschafft. Nicht zu arbeiten, ist für viele Migrant*innen in ihren Lebensrealitäten fataler, als unter schlechten Bedingungen zu arbeiten. Sascha Lübbe begleitet den Zoll bei einem Einsatz zur Überprüfung einer Baustelle, auf der sie illegal angestellte Arbeiter*innen vermuten. Auffällig ist in diesem Kapitel, dass die Menschen nicht mehr beim Namen genannt werden, es geht etwa um „den Mazedonier“, der keinen gültigen Aufenthaltstitel und dadurch keine Arbeitserlaubnis hatte. Für den Zoll zählen keine Einzelschicksale, sondern die Gesetzgebung. Was mit dem Mann aus Mazedonien passiert, nachdem er auf diesem Weg kein Geld mehr bekommen kann, bleibt offen.
Was nun?
Das Buch schafft durch das Personifizieren der Probleme im Niedriglohnsektor einen einfachen Zugang in die komplexen Zusammenhänge der Industrien. Auch einige Wochen nach dem Lesen des Buches sind es insbesondere sie persönlichen Geschichten einzelner Menschen in dem Buch, die im Kopf bleiben. Man wird jedoch nicht mit einem bedrückenden Gefühl von Hoffnungslosigkeit aus dem Buch entlassen. „Was nun?“, fragt Sascha Lübbe am Ende des Buches und zeigt Fälle auf, die zu positiven Veränderungen führen können. Beim Erzählen bleibt er konstruktiv, zeichnet keine falschen Bilder von Happy Ends und einem grundsätzlichen Systemwandel, der sich anbahnt.
Die Leser:innen bekommen das Gefühl, dabei zu sein, während Sascha Lübbe das kapitalistische Konstrukt aufdeckt. Arbeitnehmer:innen sprechen über ihre Existenzängste und Schicksale, dazwischen weist Sascha Lübbe geschickt auf Zusammenhänge hin, wo sie zum Verständnis notwendig sind und geht mit Expert:innen in die Tiefe, wenn das Ausmaß der Problematiken erkennbar werden soll. „Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern“ richtet sich dabei an die Menschen, die sich als Teil des „uns“ verstehen und mehr über jene erfahren wollen, die im System Arbeitsmarkt bisher unsichtbar geblieben sind.
Auch in der kohero-Redaktion haben wir uns für unsere 7. Printausgabe mit den Erfahrungen von Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte im deutschen Arbeitsmarkt auseinandergesetzt. Hier kannst du die Ausgabe bestellen.