Demokratiepolitisches Engagement und Einsatz für Vielfalt gehören in der Gesellschaft oft zusammen. Vor allem wenn man als Angehöriger mit Flucht- und Migrationsgeschichte – sei es man selbst oder über Generationen hinweg – betroffen ist. Umso wichtiger ist es, Personen mit einem solchen Hintergrund, die sich politisch engagieren, zu Wort kommen zu lassen.
Die 17-jährige Meltem Söbütay ist Mitglied im Jungen Rat der Stadt Kiel – einem Gremium, das seit 2015 die Stimmen von Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren vereint. Die Amtszeit der Mitglieder beträgt jeweils zwei Jahre, die Sitzungen sind öffentlich und stehen allen jungen Menschen in Kiel offen. Meltem engagiert sich dort bereits in ihrer zweiten Amtszeit.
Meltem, warum spielt politisches Engagement eine wichtige Rolle in deinem Leben?
Ich bin Schülerin so wie die meisten Jugendlichen. Gleichzeitig, bin ich aber auch politisch aktiv und habe mit der Zeit gemerkt, was es ausmacht und wie mich das stark geprägt hat. Besonders habe ich registriert, dass jeder Mensch eine starke Stimme hat und ich möchte meine Stimme nutzen, um meine Anliegen in der Gesellschaft zu vertreten.
Gab es eine bestimmte Person oder ein konkretes Erlebnis in deinem Leben, das dich dazu motiviert hat, dich politisch zu engagieren?
Mein Bruder war für mich tatsächlich die größte Inspiration. Er hat mir gezeigt, dass Menschen etwas verändern können - unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft. Und für so ein Menschenbild hat er sich eingesetzt und das werde ich ebenfalls tun.
Viele junge Menschen erleben, dass sie aufgrund ihres Alters nicht ernst genommen werden – gerade wenn sie sich politisch engagieren wollen. Hast du das auch erlebt?
Das Alter ist für mich eine Motivation, mich zum Beispiel im Jungen Rat, also im Jugendparlament in Kiel, zu engagieren. Genauer gesagt, hat das Alter für mich zwei Bedeutungen: Es stellt zum einen die Stimme der Jugend dar, deren gesellschaftlichen Einsatz man als gute Sache ansieht. Genauso zeigt es aber auch: Jugendliche können sich engagieren, sind gut auf dieses Engagement vorbereitet und bringen frischen Wind rein. Auf der anderen Seite schwingt aber auch immer wieder der Eindruck mit: „Sie sind zu unerfahren, sie wissen doch gar nichts – können sie politisches Handeln und die damit verbundenen Aspekte überhaupt beurteilen?“ Für mich stimmt aber eben dies nicht, weil ich denke, dass erwachsene Menschen Jugendlichen einfach die Möglichkeit geben müssen, das Demokratie, Politik und Werte zu erfahren, zu lernen und sich eben diese Erfahrungen anzueignen. Man muss nicht den Anspruch haben, alles gleich zu können. Was Jugendliche ja eben täglich machen, ist sich dieses Wissen anzueignen. Viel wichtiger ist für mich, dass junge Menschen Ahnung von gesellschaftlichen Themen und politischer Theorie haben.
Du hast dich zwei Amtszeiten lang im jungen Rat engagiert. Was sind die Hürden und Probleme, die man dort als junger Mensch, insbesondere bei der Zusammenarbeit mit politischen Entscheidungsträgern, erlebt?
Der junge Rat wurde vor zehn Jahren in Kiel gegründet. Am Anfang war es tatsächlich eher eine schwierige Zeit. Viele, die Mitglieder im jungen Rat waren, haben mir berichtet, dass es schwer war, überhaupt ernst genommen zu werden. Was vor allem den Aspekt betrifft, von Älteren nicht gesehen zu werden. Aber das wir trotzdem gehört werden, liegt auch daran, dass wir Antrags- und Rederecht in der Ratsversammlung haben. Genauer gesagt können wir dort direkt Anträge stellen und auch zu Themen Reden halten. Vor allem nutzen wir dafür unseren Jahresrückblick, um Anträge mündlich genauer zu begründen. Dabei stellen sich für uns auch Fragen, ob und wie wir direkt in der Kommunalpolitik verankert sind. Dies geschieht folgendermaßen: Wir stellen Anträge an die Ratsversammlung die dann angenommen werden müssen und durch Ausschüsse wie für Schule und Sport müssen. Meist wird aber vorher ein Prüfauftrag an die Verwaltung gestellt, um zu schauen wie durchsetzungsfähig die Forderungen sind. Und dann geschieht dasselbe auch bei einer anderen Stelle. Und so wird mit uns Pingpong gespielt. Das ist leider sehr nervig.
Teilweise heißt es ja auch, junge Erwachsene würden sich nicht für Politik interessieren. Spielte das bei der Gründung des jungen Rats eine Rolle?
Durch die Existenz des jungen Rates merken Menschen schon, dass ein Interesse da ist. Daher sehen die Erwachsenen, dass ein Interesse besteht. Für mich ist es einfach so, dass Erwachsene das, was wir fordern, oft nicht umsetzen. Junge Menschen wissen dadurch nicht recht, was ihre Rechte und Möglichkeiten sind, da sie dies nicht erfahren. Deswegen sagen viele Erwachsene, dass junge Menschen Politik nicht interessiere.
Würdest du sagen, das politische Erfahrung wichtig ist?
Nein, auf gar keinen Fall. Wir haben im jungen Rat teilweise in zwei Monaten mehr erreicht als in einem Jahr. Es ist ein komplett unabhängiges Ding von Zeit. Es ist situationsabhängig, welche Menschen sich zusammenfinden und welche Themen sie finden und wie abschließend dann der ganze Prozess funktioniert. Manchmal funktioniert es und manchmal brauchen wir ein Jahr für einen ganzen Antrag. Wir wissen aber oft, wie wir mit der Politik zusammenarbeiten müssen und an welche Stellen wir uns wenden müssen.
Wie denkst du: Wie sollte man mit rechten Parteien umgehen?
Ich habe erlebt, wie rechte Parteien auf Demos versuchen, Menschen mit Migrationshintergrund zu entmenschlichen. Ihre Botschaften richten sich gegen unsere Existenz und Lebensrealität Auch online bekommt man solche Anfeindungen mit. Solche Erlebnisse motivieren mich aber dagegen vorzugehen und für Gleichberechtigung einzutreten.
Du hast erzählt, dass du eine Migrationsgeschichte hast. Hast du dadurch bestimmte Erfahrungen gemacht, bei denen du das Gefühl hattest, dich ständig anpassen zu müssen? Und war das ein Anstoß für dich, dich politisch zu engagieren?
Man steht häufig unter dem Druck, sich anpassen zu müssen. Menschen in einer Kultur wollen, dass man sich ihnen anpasst, aber sie selbst wollen sich nicht ändern. Die Leute machen es einem dabei schwerer, weil sie einen nicht verstehen wollen. Bei dieser Thematik kommt aber auch der Begriff „Integration“ ins Spiel. Für mich als Person mit Migrationsgeschichte ist das aber etwas anderes als für die Gesellschaft. Für uns müssen wir uns nicht selbst verändern, sondern die Gesellschaft muss sich verändern - indem diese kompromissbereiter und offener wird. Konservative Forderungen sind dabei oft nicht mehrdeutig im progressiven Sinne, weil sie nur ihre jeweils eigene Deutung des Begriffes „Integration“ zulassen.
Kannst du mir etwas über die Migrationsgeschichte deiner Familie erzählen?
Meine Oma und mein Opa sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Ich sehe das als eine große Chance. Diese Menschen sind hierhergekommen, um ein völlig neues Leben zu beginnen – mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, auf eine Zukunft für sich und ihre Kinder. Und genau das ist ihnen gelungen, auch wenn es mit vielen Schwierigkeiten verbunden war. Ich bin jetzt die dritte Generation und man merkt ja, dass ich als dritte Generation schon so viel erreichen kann, obwohl sie mit Hürden zu kämpfen hatten.
Du hast erzählt, dass Menschen mit türkischem Hintergrund häufig Diskriminierung erleben – auch du. Was wünschst du dir von der Gesellschaft im Umgang mit solchen Erfahrungen?
Ja, türkischstämmige Menschen haben Diskriminierungserfahrungen gemacht. Es muss aufgearbeitet werden, dass Diskriminierung stattgefunden hat und die andere Seite nicht darüber spricht.
Was braucht es deiner Meinung nach, damit die Gesellschaft die Geschichte der Gastarbeitergeneration stärker anerkennt und aufarbeitet?
Muss man darüber nachdenken, in welchem Sinne man das jetzt gerade noch verändern kann. Es ist ja nicht so, dass zu dieser Zeit noch viele Gastarbeiter*innen herkommen. Diese Generationen bilden sich einfach weiter und ich habe mich auch viel damit beschäftigt und es gibt auch viele Filme, Dokumentation und Serien dazu, die ich geschaut habe, um nachzuvollziehen, womit die Menschen zu kämpfen hatten.
Wie sollte deiner Meinung nach heute über die Erfahrungen von Gastarbeiter*innen gesprochen oder berichtet werden?
Diskriminierung ist ein wichtiger Teil im Bewusstsein vieler Gastarbeiterinnen, da es sie selbst betrifft. Ich bin dafür, dass weitere Filme und Serien zur Aufklärung über sie und ihre Thematik produziert werden, um zu vermitteln welche Problematiken sie erfahren haben. Aber es sollten nicht nur die negativen Aspekte der Erfahrungen von Gastarbeiterinnen gezeigt werden, sondern auch die positiven Aspekte. Viele haben gekämpft und sich im Laufe der Zeit etwas aufgebaut. Man sollte diese Menschen daher nicht als Opfer darstellen.
Wie hast du die Vorstellung von “Deutsch sein” erlebt – gerade im Hinblick auf Aussehen, Sprache oder Herkunft?
Ich habe oft erlebt, dass Deutsch sein mit einem bestimmten Aussehen, der Sprache oder allgemein einer Tradition verbunden ist. Aber für Menschen, die anders aussehen, bedeutet das, dass sie sich immer beweisen müssen, egal wie lange sie schon hier sind. Dass sie dazu gehören und dass sie vielleicht auch hier geboren sind. Ich bin davon aber nicht so sehr betroffen, weil ich diesem Klischee von einem „Ausländer“ nicht entspreche: Ich habe helle Haare, ich habe grüne Augen – auf den ersten Blick sieht man es mir nicht an. Wenn mich Leute fragen, ob ich Deutsch bin, ist meine Antwort: Ja, ich bin Deutsch. Ich bin hier geboren, ich habe einen deutschen Pass, aber meine Wurzeln sind trotzdem türkisch.