Groß und dick geschmiert, auf der Wand festgehalten. Auf dem Cerro Alegre in Valparaiso kann ich deutlich lesen: Palestina libre. Der Satz scheint über der Stadt zu schweben und umarmt in anderen Großstädten ihre Relevanz. An der Uferwand des Flusses Mapocho steht er auch. In Concepcion auch, kleiner, aber er ist da. In Antofagasta habe ich ihn auch entdeckt. Aber nicht nur an den Wänden, sondern in weiteren Symbolsprachen ist deutlich die pro-palästinensische Haltung in Chile zu erkennen.
Ein chilenisches Sprichwort besagt, dass selbst im kleinsten Dorf Chiles, ein Priester, ein Polizist und ein Palästinenser leben
Die palästinensische Einwanderungsgeschichte nach Chile beginnt schon vor mehr als 100 Jahren. Seit dem 19. Jahrhundert immigrierten palästinensische Menschen in den amerikanischen Kontinent. Armut und die Arbeitsmöglichkeiten in Chile warben Menschen aus dem Libanon, Syrien, Transjordanien und Palästina, um ein neues Leben zu starten. Damals unternahmen Chile und Argentinien eine Besiedlungsstrategie und förderten eine Migrationspolitik, die jedoch nur den europäischen Einwander*innen Vorzugsbehandlung gewährte. Menschen aus arabischen Ländern wurde weder Land noch Wohnraum gewährt.
So etablierten sie sich als Fischer*innen, widmeten sich der Kupferindustrie und Viehzucht, führten Kaufhandel auf den Straßen oder an den Haustüren. Nach und nach gelang es ihnen, ihren Familienmitgliedern nach Chile zu helfen. Besonders Anfangs des 20. Jahrhunderts, als die wachsende Spannung in Palästina sich noch verstärkte, erreichte Chile den historischen Höhepunkt an palästinensischer Einwanderung.
Ihre Migration wurde 2010 von der chilenischen Regierung stark befürwortet, da sie laut einer Studie von Paula Lekenda (2008) Vorteile in der Wirtschaft, Förderung des Multikulturalismus und einen Weg zu religiöser Toleranz bedeutete. Zudem gilt das Affinitätsprinzip: Ethnischen und nationalen Verwandten muss nämlich Hilfe gewährleistet werden. Aktuell leben rund 400.000 Menschen mit palästinischen Wurzeln in Chile, das macht ca. 1,8 % der chilenischen Bevölkerung aus.
Sie haben Chile politisch und wirtschaftlich aufblühen lassen: Die Einkaufzentrumskette Parque Arauco ist im Besitzt der palästinensisch-chilenischen Familie Said, zahlreiche palästinensisch-chilenische Politiker wie Pedro Sabat, auch ehemaliger Bürgermeister von Ñuñoa, sorgten für Repräsentation in Regierungsentscheidung und Außenpolitik.
Seit mehreren Generationen bildet die palästinische Gemeinde im Hauptstadtviertel namens Patronato mit zahlreichen Unternehmen einen Zugehörigkeitsort. Das in 1920 gegründet Gemeindezentrum Palestine Club in Chile, konzentrierte sich darauf, Integration durch sportliche und kulturelle Aktivitäten zu fördern und erlangte durch das erfolgreiche Palestine Soccer Sport Club internationalen Status mit aktivistischer Symbolik. Hier weht die größte Flagge Palästinas.
„Ich bin Chileno, aber mein Blut kann ich nicht verändern. Ich bin für immer Palestino“
Mit leerem Magen stieß ich im Zentrum der Hauptstadt auf Nabil’s Schawarma Imbiss. Nabil Ahmad, 57 Jahre alt, lebt seit fast acht Jahren in Chile und betreibt seit vier Jahren sein Schawarma-Imbiss, seit einigen Monaten sein palästinensisch-libanesisches Restaurant. Er selber kommt aus dem Libanon und hat palästinensische Wurzeln. Sein Leben im Libanon und Palästina beschreibt er als Schwarz und Weiß, wunderschön und auch sehr schlimm. Dort war er angesehener Fotograf und Direktor für Musikvideos.
Einfach war der Weg nach Chile nicht, der Wechsel in eine neue Struktur mit viel Bürokratie war ein langer Prozess. Seine Profession musste er aufgeben, eine neue Sprache lernen, aber als er endlich ein Weg zu seinem eigenen Business gefunden hatte, die nötigen Papiere besaß, wurde sein Leben „einfach“ und „schön“.
Die Geschichte vor der Auswanderung war sehr lang, aber in Chile angekommen, war sie sehr kurz
Im Internet informierte er sich, wo die größte palästinensische Gemeinde lebt und stieß auf das Land Chile. Überzeugt, begann er mit seiner Auswanderungsgeschichte, um seinen Traum in Erfüllung gehen zu lassen: ein friedliches Leben für ihn und seine ganze Familie. Am Anfang kam er alleine nach Chile, doch nach einiger Zeit auch sein ältester Sohn. Teile seiner Familie, wie seine Frau, musst er im Libanon zurücklassen, dennoch sind sein Sohn und er dabei, für sie ein Visum zu beantragen. Denn „ohne die Familie kann man nicht leben“ erklärt er mir.
Wenn etwas in Palästina passiert, gehen alle auf die Straße. Genau das macht Palästinenser aus
Von Anfang an war Nabil bewusst, dass er eine neue Kultur kennenlernen wird und war sehr neugierig. El 18. de Septiembre, der chilenische Nationaltag, war ein großer Kulturschock, sagt er lachend. Auch die Paar- und Familienkultur war für ihn ganz neu. Hier trennen sich Familien, hier wollen sie Single sein. Im Libanon sei es nicht so, erklärt mir Nabil.
Das Essen im Libanon sei viel mehr, diverser. „Ich möchte nicht vergleichen“, beteuert er mir mit einem Lächeln, aber das Essen sei dort viel besser. Ich grinse zurück, denn ich bin so glücklich, dass ich seinen Essensstand gefunden habe. Ansonsten sei er der Meinung, dass die Menschen sich sehr ähneln, in ihrer Art und wie sie miteinander kommunizieren.
Als ich ihn frage, ob er sich nach 8 Jahren zu Hause fühlt, antwortet er mir:
„Diese Frage ist sehr wichtig für mich. Ich bin im Libanon geboren und aufgewachsen. [Dort] darf ich nicht in meinem Namen mir ein Haus kaufen, weil ich Palästinenser bin, ich darf dort nicht in meinen Namen arbeiten, weil ich Palästinenser bin. Deswegen ist immer mein Zuhause Palästina gewesen. Und das war immer mein Traum in Chile, eine [normale] Person sein können. Zum ersten Mal in meinen Leben habe ich einen Pass. Zum ersten Mal kann ich wählen gehen. Zum ersten Mal kann ich eine Person sein wie du.“