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Eine Woche in Syrien

Nach langer Abwesenheit war Chefredakteur Hussam wieder Syrien. Hier berichtet er über die Eindrücke, die er bei diesem Besuch in seiner Heimat gewonnen hat, von der Einreise über den Libanon bis zu seinem Aufenthalt in einem veränderten Damaskus.

Eine Woche in Syrien
Fotograf*in: Sami Raad auf pexels.com

Letzte Woche war ich in Damaskus. Deshalb konnte ich auch keine neue Folge veröffentlichen – sorry dafür. Es war das erste Mal seit über zehn Jahren, dass ich seit meiner Flucht wieder dort war. Im Oktober letzten Jahres hatte ich in meiner Kolumne für die taz (Hamburger, aber Halal) über diese zehn Jahre auf der Flucht geschrieben. Damals plante ich mein Leben – und auch mein Sterben – in Hamburg, weil ich überzeugt war, Damaskus nie wiedersehen oder besuchen zu können. Auch meine Familie dort zu treffen, schien unmöglich.

Ursprünglich wollte ich mich deshalb im Februar diesen Jahres mit meinen Eltern in Jordanien verabreden. Aber das Schicksal hatte andere Pläne. Assads Regime wurde am 8. Dezember tatsächlich gestürzt und viele Syrer*innen haben das gefeiert. Denn, wie ich immer sagte: „Syrien bekommt seine Kinder zurück.“ Alhamdulillah, oder auf Deutsch: Gott sei Dank. Viele Syrer*innen möchten jetzt so schnell wie möglich zurückkehren, aber es war schwierig, eine passende Reisemöglichkeit zu finden.

Ich wollte nicht über den Libanon reisen und dachte zuerst an einen Flug über Doha nach Damaskus, was aber über 13 Stunden gedauert hätte. Dann prüfte ich die Verbindung nach Istanbul, aber da hätte ich einen Tag bleiben müssen. Doha war außerdem sehr teuer. Über den Libanon wiederum wurde Syrer*innen die Einreise verweigert. So überlegte ich den ganzen Dezember und Januar hin und her.

Dann erzählte mir mein Freund und Kollege Ahmad al-Shiehabi, dass er vom 14. bis zum 21. Februar eine Reise über den Libanon nach Syrien gebucht hat. Ich sagte sofort: „Ich komme mit!“ Am 21. Januar buchte ich mein Ticket. Doch danach kamen all die beunruhigenden Gedanken: Was, wenn es nicht klappt und ich meine Eltern in Damaskus doch nicht sehen kann? Nach zehn Jahren hatte ich einfach keine Geduld mehr, weitere 24 Tage zu warten. Diese 24 Tage waren die längsten meines Lebens. Jeden einzelnen Tag spürte ich, wie sich das Warten in die Länge zog.

Das ist auch einer der Gründe, warum ich nicht viel über meine Reise gesprochen habe: Ich war emotional völlig durcheinander und machte mir Sorgen um viele Kleinigkeiten, die man sonst gar nicht beachtet. Aber so ist es nun mal, wenn ein Besuch nach so langer Zeit vor der Tür steht – bis heute kann ich es kaum glauben. Es wirkt immer noch wie ein Traum.

Gleichzeitig hatte ich Angst, dass mein neuer Charakter nicht mehr zu meiner Familie und meiner Stadt passen würde. In den letzten zehn Jahren habe ich so viel erlebt, was mich geprägt und verändert hat. Auch meine Familie und Damaskus haben unendlich viel mitgemacht – natürlich haben auch sie sich verändert.

Was außerdem ziemlich verrückt und irgendwie schicksalhaft ist: Seit 2019 hatte ich keinen gültigen Pass mehr. Fünf Jahre wartete ich, um endlich einen Pass zu bekommen. Und als ich meinen deutschen Pass erhalten habe, ging meine erste Reise direkt in meine Heimat Damaskus. Viele Syrer*innen wollen ebenfalls erst dann in die Heimat zurück, wenn sie einen deutschen Pass haben, weil sie Angst haben, dass sich in Syrien alles verändert hat und das Land viel Zeit für den Wiederaufbau braucht.

Jetzt, wo ich nach fünf Jahren endlich wieder reisen darf, kehre ich also in meine Heimat zurück. Das empfinde ich als ein sehr faszinierendes Schicksal.

Ahmad und ich sind schon um zwei Uhr nachts zum Flughafen gefahren, obwohl unser Flug erst um 6:45 Uhr ging. Wir konnten einfach nicht schlafen und dachten, es sei besser, direkt am Flughafen zu warten. Dort sahen wir viele Syrer*innen, die ebenfalls über Beirut nach Syrien reisten.

Interessant war, dass die libanesische Polizei zuerst meinen deutschen Pass nahm und dann meinen syrischen Pass sehen wollte, obwohl dieser gar nicht mehr gültig war. Ich fragte nach dem Grund und die Polizisten erklärten, dass sie von allen Araber*innen mit westlichen Pässen zusätzlich den Originalpass verlangen, weil im westlichen Pass weder der Name des Vaters noch der Mutter vermerkt wird. In Syrien sind neben dem eigenen Vor- und Nachnamen auch die Namen der Eltern zu finden.

Anschließend sagte mir einer der Polizisten, Deutschland würde mir den deutschen Pass wieder abnehmen. Ich antwortete darauf, dass das nicht stimme. Er erwiderte, Syrer*innen würden den deutschen Pass verlieren, wenn sie zurückkehrten, weil sie ja angeblich nicht mehr als Geflüchtete gelten könnten – schließlich gäbe es in Syrien keinen Krieg mehr. Ich erwiderte nichts, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, und weil er das Ganze auch noch schadenfroh lächelnd äußerte.

Wir sind dann mit einem sehr alten Auto vom Flughafen nach Beirut gefahren. Syrische Autos dürfen nicht bis zum Flughafen durchfahren, und da wir ein syrisches Taxi bestellt hatten, mussten wir uns außerhalb des Flughafengeländes abholen lassen.

Auf dem Weg passierten wir Al-Dahiya al-Janubiya, ein Viertel, das ursprünglich als Siedlung gebaut wurde, aber durch israelische Angriffe stark beschädigt ist. Dort leben auch Anhänger der Hisbollah. Wir wollten Fotos machen, doch der Fahrer warnte uns. Als Syrer könnten wir schnell als Spione verdächtigt werden. Deshalb verzichteten wir lieber darauf.

Schließlich fuhr ich durch Beirut und sah, wie alt und heruntergekommen die Stadt mittlerweile ist. Beirut ist nicht mehr die ehemals pulsierende Metropole des Nahen Ostens, sondern nur noch eine verlassene, alte Stadt. Beirut war lebendig, auch im Bürgerkrieg in den 70er und 80er Jahren. Ich hoffe, dass sie mit der neuen Regierung zu dieser Lebendigkeit zurückkehren kann.

Nach mehr als drei Stunden erreichten wir endlich die Grenze. Unser Fahrer scherte sich nicht um Verkehrsregeln – er tat einfach alles anders, als man es normalerweise tun würde. Doch nicht nur er fährt so, alle verstoßen gegen die Straßenverkehrsordnung.

An der syrischen Grenze lief alles gut. Die neuen Grenzbeamten stempelten unsere Pässe schnell und schon waren wir in Syrien. Auf der Grenze wollte ich zur Toilette – aber sie war total dreckig und kaputt, sie funktionierte gar nicht. Als ich das sah, war ich ziemlich verärgert. Wie kann man so eine Toilette hier zurücklassen, wo sie doch das Erste ist, was Besucher*innen zu Gesicht bekommen? Dann verstand ich jedoch: Ganz Syrien ist wie diese Toilette. Assads Regierung, der Krieg und die Korruption haben das Land zerstört – nicht nur funktionsunfähig gemacht, sondern auch verschmutzt.

Nach 14 Stunden Reise war ich endlich bei meiner Familie und konnte meine Eltern, meine Schwestern und meine Verwandten wiedersehen. Sie empfingen mich mit zagharid (eine Art lauter Freudenrufe, die Frauen bei Hochzeiten oder Geburten anstimmen, um ihre Freude auszudrücken – meist sind es ältere Frauen, die auf diese Weise feiern).

Meine Familie lebt nicht direkt in Damaskus, sondern eine halbe Stunde außerhalb in einem Ort namens Al-Diyabiyah. Al-Diyabiyah ist ein kleiner Ort in der Nähe von Sayyida Zaynab – einem wichtigen schiitischen Wallfahrtsort, an dem auch die Hisbollah bis zum 8. Dezember großen Einfluss hatte. Lange herrschte der Krieg auch dort und erst 2018/19 durften die Menschen nach Al-Diyabiyah zurückkehren. Viele Wohnungen waren völlig ausgeraubt, sogar die Stromkabel aus den Wänden gestohlen. Jetzt versuchen die Bewohner*innen, ihre Häuser langsam wiederaufzubauen. Doch die Menschen haben kein Geld, weder für den Wiederaufbau, noch für Essen und für die Heizung.

Al-Diyabiyah ähnelt einer Siedlung, die zum Teil illegal errichtet wurde. Hier leben auch Geflüchtete, die 1968 von den Golanhöhen vertrieben wurden, als Israel Syrien, Ägypten und Jordanien angregriffen hatte. Sie hatten damals alles verloren und suchten hier eine neue Heimat. Auch meine Familie stammt aus dem Golan, weshalb Vertreibung, Flucht, Leid und Verlust eine große Rolle in meinem und dem Leben vieler Familien hier spielen.

Am Samstag fuhr ich dann in die Stadt Damaskus selbst – und war enttäuscht, weil ich das Damaskus meiner Erinnerung, mit seinem Zauber, nicht wiederfand. Dieses Damaskus existiert nicht mehr. Stattdessen sah ich eine alt gewordene, schmutzige Stadt, die ihre Geschichte und Erbe nicht mehr tragen kann, sondern von Armut, Traurigkeit und Unrat gezeichnet ist. Es hat mich sehr mitgenommen, das zu sehen.

Überall erkannte ich Müdigkeit, Elend, Traurigkeit und Hunger in den Gesichtern der Menschen. Viele Kinder arbeiten auf der Straße, verkaufen Kleinigkeiten, betteln um Geld – vermutlich haben sie ihre Eltern verloren. Dieses Damaskus, das ich nun erlebte, ist definitiv nicht das Damaskus, das ich kannte. Früher war die Stadt voller Würde, voller Leben, mit dem Duft teuren Jasmins in der Luft. Damaskus war einst reich. Damaskus war auch alt und mit jedem neuen Jahr wurde die Stadt schöner.

Aber jetzt wird sie eher immer deprimierter, mutloser und bedrückter. Den Bewohner*innen von Damaskus wurde ihre Macht und Kraft geraubt, denn früher haben sie den Lebensmut durch ihre Stadt bekommen. Doch die Quelle ihres Mutes, die aus dem Herzen von Damaskus kommt, wurde ihnen genommen. Ich erkannte dieses Damaskus einfach nicht mehr wieder.

Die Menschen sind ärmer geworden, und man sieht, wie sehr die Armut in Syrien insgesamt zugenommen hat. Überall gibt es Spuren von Zerstörung und Leid und man erkennt die Not in den Gesichtern der Kinder. Viele junge Männer starben nicht nur im Krieg, sondern erlagen Herzinfarkten – wahrscheinlich ausgelöst durch große Traurigkeit, Unterdrückung und Angst.

Ich hatte gehofft, ein anderes Damaskus zu sehen – ein Damaskus, das voller Leben ist und das Blut seiner Geschichte in den Adern trägt. Aber nach zwölf Jahren Krieg ist so viel verloren gegangen. Die Stadt hat einen großen Teil ihrer Kinder verloren und ihres Stolzes eingebüßt. Diese älteste, einst so strahlende Stadt, die ein riesiges Erbe trug, wurde teilweise ihrer Geschichte beraubt und lebt nun in Trauer.

Ich wünsche mir sehr, dass Damaskus schnell wiederaufgebaut wird, wenn die Sanktionen aufgehoben werden und neues Leben zurückkehrt. Es ist schmerzhaft, dass besonders Damaskus, die größte Stadt Syriens, so sehr leidet. Wie muss es dann erst in kleineren Städten wie Deir ez-Zor oder Hama aussehen? Ich glaube jedoch, nur die Zeit kann die Wunden von Damaskus heilen und ihm seinen Stolz zurückgeben. Ich hoffe, dass diese stolze Stadt, diese alte, starke Frau mit ihrer Geschichte, eines Tages in ihrer vollen Schönheit wieder aufersteht.

Ich möchte die Folge an dieser Stelle beenden, werde aber in der nächsten Folge noch mehr darüber berichten, was ich in Syrien und Damaskus gesehen habe. Diese Woche war für mich sehr anstrengend, da ich nach einer langen Woche in Syrien jetzt viele Dinge erledigen musste. Ich entschuldige mich deshalb dafür, dass ich für diese Folge keine Nachrichten zusammengetragen habe. Ich werde jedoch versuchen, in einer weiteren Folge darauf einzugehen und die wichtigsten Neuigkeiten aus Syrien zu sammeln.

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