Berlin, November 1989:
Die Interflug-Maschine IF700 aus Beijing landet nach knapp zehn Stunden auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. Umgeben von einem Strom fremder Stimmen, unbekannter Gesichter, auf einem völlig fremden Kontinent, mit bloß einem Koffer in der Hand. Die Reise geht weiter, durch die DDR-Grenzkontrolle, in einen Zug, der zum finalen Ziel führt: Hamburg.
Doch dies ist weit mehr als die bloße Ankunft in einem fremden Land. Es ist der Auftakt zu neuen Träumen, Zielen und vor allem zu einem neuen Lebenskapitel.
Heute, über 30 Jahre später, steht meine Mutter Song Moritz (geb. Cai) inmitten ihres neuen Lebens, umgeben von Erinnerungen, die reich an Geschichten sind. Die Erfahrungen meiner Mutter werfen ein Licht auf universelle Themen wie Mut, Anpassung und die Suche nach Zugehörigkeit, die Migrant*innen weltweit erleben.
Ihre Migration beleuchtet allerdings eine Zeit, in der Abschied noch eine ganz andere Bedeutung hatte und Digitalisierung und Globalisierung noch an ihren Anfängen standen.
Aber zum Anfang zurück …
Meine Mutter fasste bereits mit 21 Jahren den Entschluss, nach Deutschland zu ziehen, kurz nachdem die Auswanderung für Chinesinnen und Chinesen erstmals möglich wurde. Ohne Angst, aber von Abenteuerlust und Fernweh getrieben, beschloss sie, im Ausland zu studieren, ohne zuvor jemals ihr Heimatland verlassen zu haben. Die Entscheidung für Deutschland fiel eher zufällig:
„Ich hatte vorher keinerlei Bezug zu Deutschland. Aus Zufall stieß ich auf einen Zeitschriftenartikel mit der Überschrift ‚nach Deutschland?‘, welcher mich zu meiner Entscheidung bewegte.“ Die Vorbereitungen waren pragmatisch und zielgerichtet: Visum beantragen, Deutschunterricht – A2-Niveau musste reichen –, Koffer packen und Abschied nehmen.
In Deutschland angekommen, fand sie zunächst Unterkunft bei entfernten Verwandten und kümmerte sich um deren Kinder. Schon bald wurde der Platz jedoch eng:
„Eine ältere deutsche Dame aus dem gleichen Gebäude bot mir an, gegen ein wenig Geld bei ihr zu wohnen. Es war anfangs etwas komisch, zu einer völlig fremden Person zu ziehen, die ich kaum verstand. Sie war aber sehr nett, hilfsbereit und kochte sogar manchmal für mich.“
Schon nach einem Monat Studienvorbereitung am Studienkolleg wechselte sie zur HAW Hamburg, wo sie den Sprachtest für ihr Bauingenieurstudium bestand. Trotz bestandener Prüfung waren die ersten Vorlesungen eine Herausforderung; vieles blieb unverstanden, und Hilfe war schwer zu finden. Sie entschied, das Pflichtpraktikum vorzuziehen, getreu dem Motto „Learning by doing“, in der Hoffnung, durch praktische Erfahrungen zu lernen.
Die ersten Monate in Deutschland waren nicht einfach
Neues Studium, kaum Sprachkenntnisse, wenige Bezugspersonen und vor allem: kein Geld. Einer der schwierigsten Aspekte war es, unter diesen Bedingungen einen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie begann, jeden Morgen vor Unibeginn zwei Stunden als Putzkraft zu arbeiten und kellnerte später in einem chinesischen Restaurant. Es war nicht einfach, Studium und Arbeit zu vereinbaren, während man gleichzeitig versuchte, in einem völlig fremden Land Anschluss zu finden.
Sie fand jedoch viel Unterstützung. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr Praktikumsleiter Herr Edlir:
„Er nahm viel Rücksicht darauf, dass ich kaum Deutsch sprach. Er nahm mich überall mit hin und erklärte mir alles persönlich. Er lud mich sogar zu sich und seiner Frau nach Hause zum Essen ein. Sie gaben mir ein erstes Gefühl von Zugehörigkeit.“
Isst du wirklich Hundefleisch?
Allerdings machte meine Mutter auch andere Erfahrungen. Obwohl sie generell stets freundlich empfangen wurde, stellte sie schnell fest, dass es schwierig war, tiefergehende Freundschaften zu schließen. Es war schwierig, ein Gefühl von Zugehörigkeit zu entwickeln, da sie immer die „Fremde“ blieb. Trotz vieler positiver Begegnungen war sie auch mit weniger sensiblen Bemerkungen konfrontiert und wurde immer wieder gefragt, wann sie nach China zurückkehren würde, als ob es in Deutschland keinen dauerhaften Platz für sie gäbe.
Der Kontakt in die Heimat war in einer Zeit vor digitaler Kommunikation und sozialen Medien beschränkt und kostspielig. Ein Brief alle zwei Wochen, um die Familie über die wichtigsten Ereignisse zu informieren. Einmal im Monat ein Telefonat, um die Stimme ihrer Liebsten zu hören. Dies beschränkte sich aufgrund der hohen Kosten allerdings auf nur wenige Minuten.
Das war aber kein Grund, aufzugeben.
Meine Mutter kämpfte sich durch, lernte Deutsch, absolvierte ihr Studium und lernte meinen Vater kennen, wodurch Deutschland zu einem Zuhause für sie wurde.
Auf die Zeit zurückblickend, würde sie heute allerdings einige Dinge anders angehen. Sie hatte zu oft versucht, es ihrer Familie recht zu machen, anstatt auf sich selbst zu achten. Sie wollte ihre Familie stolz machen. Ihnen zeigen, dass es sich gelohnt hatte, fortzugehen. Sie arbeitete sehr viel, um finanziell unabhängig zu sein, wählte ein Studienfach, das mehr den Wünschen ihrer Eltern entsprach, als ihren eigenen und sprach nie mit ihnen über Zweifel und Probleme. Sie sagt heute, sie bereue etwas, sich selbst für andere aufgegeben zu haben.
Nichtsdestotrotz hat sie so viel Mut, Stärke und Selbstständigkeit bewiesen, dass sie sich unter diesen Bedingungen, ganz allein ein völlig neues Leben aufgebaut hat, worauf sie nun mit Stolz zurückblicken kann.
Das Auslandsstudium
Wie meine Mutter habe auch ich wegen meines Studiums mein Heimatland zu verlassen, wenn auch nur für einige Monate. Doch die Umstände waren grundlegend anders. Angefangen damit, dass ich das Privileg hatte, in nahezu jedes Land zu gehen, in das ich wollte. Die USA sollten es werden. Ein weiterer Vorteil: ich beherrschte die Sprache bereits fließend. Eine Agentur hat mich bei meinen Vorbereitungen unterstützt und stand mir für Fragen zur Verfügung. Finanziell war ich stets abgesichert. Vor Ort traf ich überall auf internationale Student*innen, was schnell eine Atmosphäre von Vertrautheit und Gemeinschaft schuf. Zusätzlich war ich dank der modernen Technologie nur einen Anruf bzw. eine Nachricht entfernt von Familie und Freunden.
Mein eigener Aufenthalt war voller wertvoller Erfahrungen, aber kaum mit dem meiner Mutter vergleichbar. Ich erlebte viele unvergessliche Momente und auch ich stand vor einigen Herausforderungen, doch im Mittelpunkt standen für mich stets Freiheit, Spaß, das Sammeln von Erfahrungen und mein persönliches Wachstum. Obwohl ich selbstständig sein musste, hatte ich keinerlei Erwartungen zu erfüllen, höchstens die, die ich an mich selbst stellte. Der wohl größte Unterschied zu meiner Mutter liegt jedoch darin, dass der Ort für mich nur ein temporäres Zuhause darstellte.
Unsere Wege sind verschieden, kreuzen sich gleichzeitig und zeigen, wie viel Einfluss Zeit, Ort und Personen auf unsere Erfahrungen haben.