Würde ich jedes Mal einen Euro bekommen, wenn ich von einer älteren türkischen Dame auf Türkisch gefragt werde, ob ich Türkin bin, dann wäre ich ohne Arbeit reich. Ich habe dunkelbraune Augen, schwarzes Haar und je nach Jahreszeit einen gebräunten Teint. Einige Menschen schlussfolgern aus diesen markanten Merkmalen, dass ich meine Wurzeln sicherlich im sogenannten Nahen Osten habe – am ehesten wohl in der Türkei.
Darüber hinaus habe ich aber auch schon die verschiedensten anderen Länder vorgeschlagen bekommen, beispielsweise Mexiko oder Frankreich. Nie hat jemand tatsächlich ohne meine Hilfe erraten, wo meine Wurzeln eigentlich liegen. Ich nehme es keinem übel, denn meine „Mischung“ ist durchaus speziell. Dennoch erachte ich es als höchst spannend, weshalb wir Menschen so voreilig allein anhand ihrer Optik in Schubladen stecken möchten.
Dieses Phänomen zeigt sich allerdings nicht nur bei Leuten wie mir, sondern auch in genau umgekehrter Art und Weise bei anderen. So hat beispielsweise einer meiner Bekannten blondes Haar, hellblaue Augen und einen relativ hellen Teint; bloß ist er kein Deutscher, sondern Türke. Sein älterer Bruder sieht ihm sehr ähnlich, nur ist sein Haar wiederum fast platinblond.
"Dieser Umstand hat zur Folge, dass ich in Bus und Bahn so manche Lästerei mitbekomme"
Die wenigsten würden darauf kommen, dass die Brüder ihre Wurzeln anderswo als in Deutschland haben, geschweige denn Türken sind. In der Vergangenheit haben wir oft darüber gescherzt, dass man ihn selbst in der Türkei für den Deutschen und mich für die Türkin halten würde. Das hat Vor- und Nachteile, von denen man mal mehr und mal weniger profitiert.
Die wenigsten wären auf die Idee kommen, dass ich von Haus aus Russisch spreche oder gar osteuropäische Wurzeln habe. Zu meiner großen Freude hat dieser Umstand zur Folge, dass ich in Bus und Bahn so manche Lästerei mitbekomme. Ich persönlich bin jedoch der Meinung, dass ich durchaus Gesichtszüge meiner Mutter geerbt habe, aber in der Farbpalette eher nach meinem Vater komme. Auch andere bestätigen mir diesen Eindruck, nachdem sie über meine vollständige Herkunft aufgeklärt wurden. Es heißt dann gerne: „Jetzt, wo du es sagst, sehe ich es auch“ – ob sie es wirklich sehen, sei an dieser Stelle dahingestellt.
Fakt ist: Ich erfreue mich tagtäglich an meinem Allerweltsgesicht, denn es sichert mir vielerorts Vorteile, die sonst nur Einheimische genießen. So würde in Spanien, Griechenland oder Italien keiner darauf kommen, dass ich eigentlich eine aus Deutschland stammende Touristin bin. Und auch in der Türkei oder im Irak bin ich gut dabei, solange mein deutscher Akzent mich nicht verrät.
Ich verdanke es im Übrigen meiner wöchentlichen Erfahrung, auf Türkisch angesprochen zu werden, dass ich heute breit und ausschweifend erklären kann, wieso ich keine Türkin bin, aber trotzdem Türkisch spreche. Ich glaube zwar, dass die älteren Damen danach oft etwas verwirrt sind – aber immerhin wissen sie jetzt, wie sie zu dem Ort kommen, nachdem sie mich gefragt haben. Und das ist sicherlich das Wichtigste.