In diesem Artikel geht es um den Begriff der Identität im Kontext von Menschen, die im Exil in Deutschland ankommen und zwischen zwei Kulturen – zwischen zwei verschiedenen Welten – aufwachsen. Wie mag die innere Welt von betroffenen Kindern und Jugendlichen wohl aussehen, wenn sie mit sich selbst im Konflikt stehen, ohne dass die Außenwelt etwas davon mitbekommt? Eine Reise in die Innenwelt von jungen Menschen, die morgen die Grundlage unserer Gesellschaft bilden.
Das Nest
In den vier Wänden des Elternhauses wird das Fundament des Lebens und für unser erstes Verständnis von uns selbst gelegt. Und dabei spielt auch die Sprache eine entscheidende Rolle. Doch was geschieht, wenn die Muttersprache nicht mit der Sprache des Landes übereinstimmt, in dem die betroffenen Kinder aufwachsen? So kann ich mich noch an meine eigene Kindheit erinnern, in der ich in der Schule bereits erhebliche sprachliche Probleme hatte, dem Unterricht in verschiedenen Fächern zu folgen – Fehler waren das Resultat.
Viel zu sehr war mein Kopf damit beschäftigt, auf „Deutsch“ umzuschalten. In diesem Zusammenhang war ich in den ersten Schuljahren auch nicht gerade der Klassenbeste, wenn es um das Textverständnis ging oder eben darum, Diktate fehlerfrei zu schreiben. Zu Hause wurde strikt die Sprache des verlassenen Landes gesprochen, Tamilisch, das dem Deutschen nicht im Entferntesten ähnelt.
Das Gefühl des Fremdseins
Die ersten wichtigen formgebenden Jahre im Leben eines Menschen sind die ersten Bildungsjahre – in der Schule – dort, wo sich meist viel abspielt und vieles entscheidet. Was aber, wenn diese prägende Lebensphase von einem ständigen Gefühl der Angst und des „Ich gehöre nicht dazu“ begleitet wird? Zu beobachten ist, dass sich Betroffene in verschiedenen Fluchtwelten verlieren, mit dem Ziel, diesem Schatten des Gefühls zu entkommen.
Doch so wirklich werden Betroffene es nicht los, es sei denn, sie stellen sich ihm entgegen – so wie ich, als ich mich mit 24 Jahren dazu entschloss, die jahrelang getragene kulturelle „Maske“ abzulegen. Erst mit diesem Moment begann die Reise zu mir selbst. Als ich mich entschied, mein Leben so zu leben, wie ich es für richtig halte, ohne Beeinflussung durch die Gesellschaft.
Ich definiere „Gesellschaft“ folgendermaßen: ein Zusammenschluss von wildfremden Menschen, die Regeln und Normen aufstellen, nach denen sich andere wildfremde Menschen, zu denen sie keine Bindung haben, zu richten haben. Grob lässt sich das auch auf andere soziale und kulturelle Gruppen übertragen. Die moralische Bestrafung erfolgt dann durch den Ausschluss aus dem „Rudel“, sobald sich das Individuum entscheidet, einen eigenen Weg zu bestreiten. Doch was, wenn genau dieser eigene Weg weder in der hiesigen noch in der Herkunftskultur gern gesehen ist?
Emotionale Ketten
Mit diesem Dilemma hatte ich schon in jungen Jahren zu kämpfen. Der ständige Kampf für die eigenen Bedürfnisse, mit dem Preis und den Folgen des Widerstandes, nämlich der emotionalen Ausgrenzung in beiden Welten. Dieser Schmerz verbunden mit dem Willen, es endlich durchzuziehen, bewirkte, dass nach etlichen Jahren die emotionale Freiheit Einzug in mein Leben hielt. Ein Gefühl, für das ich täglich dankbar bin. Zu wissen, dass niemand über mir steht und mir vorschreiben kann, wie ich zu leben und mich zu verhalten habe. Die emotionalen Ketten sind durch den einstigen Zusammenbruch endgültig gesprengt. Doch gibt es auch einen Ausweg für diejenigen, die es nicht so weit kommen lassen möchten?
Kleine Schritte
Betroffene, die noch im kulturellen Hamsterrad gefangen sind, können mit kleinen Schritten beginnen, sich von ihm zu lösen. Das kann schon damit seinen Anfang nehmen, nicht aus „Pflichtgefühl“ zu jeder Feier zu gehen, sondern auch mal etwas ausfallen zu lassen, wenn einem nicht danach ist. Sich zu etwas zu zwingen, um andere nicht zu verärgern, ist ein Baustein von derartigen kulturellen Ketten, die sich mit den Jahren verfestigen. Sie zu lockern und zu lösen, bleibt eine lebenslange Aufgabe, der sich Betroffene widmen können, wenn sie es wollen.
Die Kunst nach einer erfolgreichen Sprengung der kulturellen Ketten ist ebenfalls, sie nicht unbewusst wieder anzulegen, sondern die erarbeitete neue emotionale Freiheit zu wahren und zu genießen. Einen solchen Moment der Befreiung wünsche ich jedem, der sich ein gesellschaftlich freies Leben wünscht, ohne Zwänge und Pflichten, die nicht mit seinen persönlichen Werten übereinstimmen. Auf meiner Reise zu dem Menschen, der ich heute bin, gab es viele Höhen und Tiefen. Viele Momente der Einsamkeit mit mir selbst und den Gedanken, ob alles von dem, was ich tue, das Richtige ist. Aber meine innere Stimme bekräftigte, dass die emotionale Transformation zu meinem wahren „Ich“ wichtig und notwendig ist, und so habe ich diesen Weg verfolgt.
Der Weg, der mich zu dem Menschen werden lässt, der ich schon immer sein wollte. Und diese Transformation wünsche ich jedem Menschen, der aus dem kulturellen Hamsterrad ausbrechen möchte. Für diese wichtige Entscheidung und den folgenden Weg wünsche ich Dir von ganzem Herzen alles Gute. Selbst im dunkelsten Tunnel der Verzweiflung gibt es am Ende einen Funken der Hoffnung.