Die Handlung des Romans „Der verlorene Vater“ spielt in New York und auf Haiti, einer krisengeschüttelten Insel in der Karibik. Armut und Naturkatastrophen und wechselnde autokratische, korrupte Regierungen bestimmen den Alltag der Menschen. Dabei war die Insel, damals noch die französische Kolonie Saint-Domingue, durch den Sklavenaufstand Ende des 18. Jahrhunderts, ein Hoffnungsschimmer: Er führte zur Gründung des ersten freien Staates in Lateinamerika. Damals kämpfte man gegen die fremden Kolonialisten, alle späteren Kämpfe waren gegen die eigenen Bürger.
Die diktatorischen Zeiten des „Papa Doc“ Francois Duvalier und seines Sohnes Jean Claude, genannt „Baby Doc“ in den 1950ern waren ideale Voraussetzungen für die gefürchteten Milizen und Todesschwadronen der Tontons Macoutes, die den Vodoo-Glauben der Bevölkerung in ihr Machtgefüge einbauten. Schon ihr Aussehen und Auftreten war martialisch.
Der liebevolle Vater, der Folterer
Die haitianische Autorin Edwige Danticat kombiniert geschickt das Schock-Erlebnis der Icherzählerin Ka, dass ihr Vater ein Folterer war, mit den Erinnerungen anderer Menschen aus der haitianischen Diaspora in New York, wie dem Nachtredner, der Brautkleidschneiderin und der Begräbnissängerin. Anfangs jedoch sind diese erzählerischen Stränge befremdend, weil sie sich erst später zu einem erzählerischen Muster zusammenfinden.
Die Geschichte von Kas Vater zeigt auf, dass ein Mensch aus vielen Facetten bestehen, viele Gesichter haben kann. Er war ein liebevoller Vater, der sie regelmäßig mit in die ägyptische Abteilung des Brooklyn Museums nahm. Er las ihr oft aus dem Totenbuch vor, nannte sie Ka, nach dem Begleiter des Körpers im Dies- und Jenseits. Ka war Bildhauerin, ihr immer gleiches Modell: der Vater.
Sie hatte sich zwar immer gewundert, wieso ihre Eltern keine Freunde hatten, nie Besuch bekamen, nie von Haiti erzählten und die Mutter übermäßig fromm war. Aber sie lebten ein ruhiges Leben, er hatte einen Friseur-, sie einen Kosmetiksalon. Seine Narbe, die sich über die rechte Wange bis zum Mundwinkel zog, sei ein Relikt aus seiner Zeit als Gefangener.
Aber er war kein Gefangener, sondern ein Gefängnisaufseher, ein Folterer. Doch niemand würde ihn mit seinem alten Ich in Verbindung bringen können: Er wog 40 kg weniger als der schwammig-fette Mann, der er einst gewesen, mit seinem jetzigen Namen, einem erdachten Geburtsort hätte ihn niemand mit seinem alten Ich in Verbindung gebracht. Für die Tochter brach eine Welt zusammen. Wie geht man mit solchem Wissen um? Erlischt die Liebe zu den Eltern von heute auf morgen? Konnte sie jemals wieder Vertrauen fassen? Jemals wieder arbeiten? Denn nun hatte sie kein Motiv, kein Modell mehr.
Aber auch die eingeweihte Mutter – wie hatte sie mit einem solchen Wissen leben können, eine gute Mutter sein können? Hoffnung auf Erlösung durch den Gott der Kirche?
Was macht Macht mit dem Menschen?
Das Buch bietet neben Einblicken in die Gesellschaft und Landschaft der Insel vor allem auch Einblicke in das Menschsein. Ist ein Mensch gut oder nur etwas weniger schlecht? Schlummert in jedem die Möglichkeit des Bösen? Wie wird man zum Folterer? Sadistischer Genuss? Lockt die Gelegenheit, die eigenen Ohnmachtsgefühle gegen die Uniform der Macht zu tauschen? Die kleinen biographischen Kapitel ergeben zum Schluss einen Zusammenhang. Der Kreis schließt sich.
Vergebung? Reue? Sühne? Offene Fragen dieses einprägsamen, fast lakonisch geschriebenen kleinen Romans, der abermals aufzeigt, was Macht bewirken kann. Und Ohnmacht. Ein frommer Wunsch: Auf dass wir nie mächtig und auch nie ohnmächtig sein werden. Denn wer wären wir, wenn …
„Kein Mensch besitzt so viel Festigkeit, dass man ihm die absolute Macht zubilligen könnte“ – Albert Camus.