Die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt ist für Menschen mit Migrationserfahrung mit besonderen Herausforderungen verbunden. Diese äußern sich z.B. in Form von Diskriminierung aufgrund der Sprachkenntnisse, fehlender Anerkennung der Ausbildung aus dem Herkunftsland und Begegnungen mit strukturellem Rassismus. Viele stellen sich diesen Herausforderungen und finden ihren Weg.
Die Arbeitskultur verändert sich. Die jungen Generationen Y und Z wollen Flexibilität statt Sicherheit, Freiheit statt Wohlstand. Zu ihren Prioritäten gehören Freundinnen, Familie, soziale Gerechtigkeit, Toleranz, Diversität und Umweltbewusstsein. Junge Menschen wollen nicht in kapitalistische Hierarchien gedrängt werden. Unsere Arbeitskultur muss sich den Wünschen und Ansprüchen der Arbeitnehmerinnen anpassen, offen für Vielfalt sein und Kreativität fördern.
Welche Erfahrungen machen Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung auf dem deutschen Arbeitsmarkt? Unterscheiden sich diese Erfahrungen von denen in ihren Herkunftsländern? Und welche Wünsche und Anregungen haben Sie für eine moderne, vielfältige und offene Arbeitskultur?
Es gibt nur diesen einen Weg – oder?
Amira ist 33 Jahre alt, in Syrien geboren und aufgewachsen. Zusammen mit ihrer Familie lebte sie einige Jahre in Katar. Sie studierte in ihrer Heimatstadt Medizin und zog 2017 für einen Master in internationalem Gesundheitsmanagement nach Holland. Seit fünf Jahren ist sie in Deutschland und arbeitet seit drei Jahren als Ärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Berufsbegleitend macht sie eine Weiterbildung zur Therapeutin.
Lernen als Prozess
Amira erzählt von ihren Arbeitserfahrungen in Krankenhäusern in Syrien und im Libanon. Als neue*r Mediziner*in im ersten Jahr bekommt man eine*n Kollegen*in aus einem höheren Jahrgang zugeteilt. Diese Person ist für deine Einarbeitung zuständig. Je nach Jahrgang steigen die Anforderungen.
In Deutschland sei dies etwas anders. Die Anforderungen seien von Anfang an gleich. Der/ die Oberarztärztin habe die Verantwortung für die Einarbeitung, das Lehren und die Resultate. Diese Verantwortlichen seien aber oft sehr beschäftigt und hätten nicht viel Zeit, so Amiras Erfahrung. Sie war sehr abhängig von dem Wohlwollen und der Unterstützung der Kollegeninnen, erzählt sie. Und es hört sich so an, als hätten diese sie nicht gut aufgefangen in ihrer ersten Stelle in einem Universitätskrankenhaus.
Es ist ein sehr anspruchsvoller Job, Psychologin und Ärztin für Kinder und Jugendliche auf der Akutstation zu sein. Sich gleichzeitig in einem neuen System, in einer neuen Sprache und neuen Hierarchien zurechtzufinden, scheint sehr herausfordernd gewesen zu sein. Das Krankenhaus braucht jemanden mit Amiras beruflichem Profil.
Jedoch scheint sich niemand Gedanken gemacht zu haben, dass diese besondere Kombination aus medizinischer, sprachlicher und kultureller Qualifikation auch daher kommt, dass Amira ⅘ ihres Lebens nicht in Deutschland verbracht hat. Dass dies einer besonderen Unterstützung und Einarbeitung bedarf, um ordentlich ins Gesundheitssystem integriert zu werden.
Wie man lernt, ist also in diesem Bereich nicht systematisiert, denke ich. Und das macht es als Migrant*in sehr schwierig zu lernen. Dies beeinflusst am Ende die Qualität der Arbeit. Dokumente sind hier sehr wichtig. Z.B. das Zertifikat, auf dem steht, dass du die Einarbeitung bekommen hast. Aber diese Besessenheit, die Strukturen zu wahren, ist losgelöst von der Qualität der Dinge, deiner wirklichen Erfahrung oder Fähigkeit.
Als Migrantin in Deutschland könnte man denken, dass es das Beste ist, den Weg der Anpassung zu gehen. Mir ist erst heute wieder jemand begegnet, der es nicht glauben konnte, dass ich auf einer Fremdsprache, also Deutsch, als Therapeutin arbeite. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass es funktioniert. Als Ausländerin kann man manchmal das Gefühl haben, als klebe sich diese Projektion an einem fest. Als wäre es keine Projektion mehr, sondern als gäben sie einem diese Identität.
Dann fühlt man sich auch als Ausländer*in und bekommt das Gefühl, als hätte man die Probleme wirklich. ‘Vielleicht bin ich anders, vielleicht kann ich es nicht schaffen aufgrund der Schwierigkeiten mit der Sprache’, denke ich dann.
Aber es gibt viele Beispiele dafür, dass es nicht viel bringt, sich zu verbiegen oder zu verstellen. Natürlich kann man Menschen begegnen, die sagen: ‘Wir würden dich anstellen, aber du bist zu anders. Die Leute würden nicht zu dir kommen als Therapeutin.’ Aber Fakt ist, sie kommen zu mir zur Therapie.
Ich möchte stolz darauf sein, wer ich bin. Es ist eine meiner Stärken, dass ich anders bin und vielleicht anders als viele meiner Klienteninnen und ähnlich wie einige von ihnen. In der Therapie geht es nicht darum, ähnlich zu sein. Es geht um den authentischen Versuch, jemanden in ihrerseiner Lebenssituation zu verstehen. Unterschiede sind oft das, was uns motiviert, ‘den anderen’ verstehen zu wollen. Ich erlerne die Werkzeuge, um unsere Diversitäten in die Mitte unserer Gesellschaft zu holen.
Aber es braucht viel Kraft. Es braucht viele Freunde, um dieses tun zu können. Um die Stimmen, die mir sagen ‘du kannst es nicht schaffen’ oder ‘wir wollen diese Identität nicht sehen’, von mir abzuschütteln.
Die Realität ist divers
Manchmal begegnen mir Leute, die meinen, ich sollte ausschließlich für syrische Kinder Therapeutin sein. Aber auf meiner Arbeit sind die meisten meiner Klientinnen Deutsche und es funktioniert ganz gut. Das ist meine Realität. Ich muss das eigentlich niemandem mehr beweisen. Menschen haben das Recht, sich ihren Therapeuten*in nach menschlichen Werten auszusuchen, nicht nur nach kulturellen Profilen.
Die Kritiker haben auch irgendwie recht: Es gibt genug syrische Kinder, die eine Therapie bräuchten. Das war zum Teil auch meine Motivation, diesen Weg einzuschlagen in Deutschland, weil ich für ein Forschungsprojekt in Berlin syrische Mütter über ihren Zugang zum Gesundheitssystem befragt habe.
Die Mütter haben mir gesagt, dass sie jemanden brauchen, der ihren Kontext versteht. Und es stimmt, es ist schwierig für viele Deutsche, Schritt zu halten (mit der Vielfalt in der Gesellschaft). Die Zuwanderung verändert die gesellschaftlichen Strukturen. Es ist herausfordernd für beide Seiten, für die Migranten und für die Einheimischen. Wenn wir nicht zusammen arbeiten, wenn wir nicht an die Realität unserer Zusammengehörigkeit glauben, denke ich, dass es sehr schwierig sein wird, ein Berufsleben und ein Zusammenleben hier zu führen.
Dies ist eine Herausforderung, die mir öfter in Deutschland begegnet ist. Obwohl die Gesellschaft sehr divers ist, wollen viele, dass alles beim Alten bleibt. Es ist eine Anforderung nicht nur von den Menschen, auch vom System: Alle sollen sich “deutsch” verhalten, sich anpassen. Das System arbeitet in einer sehr regulären, organisierten Art, die auch sehr rigide sein kann. Es lässt dir nicht viel Freiraum für Veränderungen. Als jemand, der in dieses System eintreten möchte, muss man das lernen und sich auch anpassen.
Es gibt nur diesen einen Weg
Dies wird nicht spurlos an dir vorbeigehen. Vor allem, wenn man schon in anderen Systemen und Ländern gearbeitet hat und weiß, dass es auch andere Systeme gibt. Aber in Deutschland wollen sie einem immer den Eindruck vermitteln, dass es nur dieses System, diesen einen Weg gibt, dass es überhaupt keinen anderen Weg gibt. Und wieder haben sie irgendwie recht, es ist der deutsche Weg. Meiner Erfahrung nach mögen die Kollegen*innen und Vorgesetzten es nicht, wenn man ihnen sagt, etwas könnte besser sein oder anders. Auf systemischer Ebene darf ich es nicht einmal erwähnen. Der Arbeitsplatz auch in diesem Sinne sehr hierarchisch. Aber dann auch oft chaotisch.
Arbeitskultur
In Deutschland ist man sehr stolz auf die eigene Arbeitskultur. Das wird auch im so Ausland erzählt. Aber ich erlebe, dass jeder versucht, seiner Arbeit zu entkommen. Jeder versucht, die Arbeit einem anderen zuzuschieben. Mit ganz offensichtlichen Methoden. Es ist nicht einmal subtil. Wo ist denn diese arbeitsorientierte Kultur? Die ganze Struktur, sie raubt vielen Menschen ihre Energie. Sie fühlen sich wie Roboter. Deshalb sind sie unzufrieden mit ihrer Arbeit, auch, wenn sie sie lieben. Ich bin wirklich unzufrieden mit meiner Arbeit, die ich liebe, wegen des Systems und der rigiden Struktur.
Das System ist nicht konzipiert für Menschen. Ich habe das Gefühl, es arbeitet gegen die Menschen. Sogar in den Berufen, die direkt mit Menschen zu tun haben, wie im Krankenhaus. Und da spielt es keine Rolle, wo in der Hierarchie man steckt.
Es ist schwierig, Leidenschaft in die Arbeit zu bringen. Das Wort ‘Dienst’ hat wenig mit dem Herzen zu tun. Natürlich hat man Glück, wenn man oben in der Hierarchie ist und der Lohn besser ist: dann kann man sich sagen ‘ich brenne aus für einen guten Lohn’. Davon kann man sich dann ein Resort leisten nach dem Burnout. Aber der Burnout ist der gleiche, egal wo in der Hierarchie man ist.
Und da ist Deutschland dann sehr gut darauf vorbereitet: Der Markt ist sehr gut in Umschulungen. Das System ist gut darin, dich sehr schnell in einen anderen Beruf zu bringen. Keiner will ewig an einer Weiterbildung sitzen. Aber dann kannst du im neuen Bereich auch noch einen Burnout haben.
Ich denke, das Design des deutschen Systems dient dazu, ein Gefühl der größtmöglichen Sicherheit zu vermitteln. Und es bietet den Bürgern auch viel Sicherheit. Alles ist so organisiert, dass es radikale Veränderungen sehr unwahrscheinlich macht.
In Syrien z. B. ist alles viel chaotischer. Es gibt viel öfter Veränderungen, aber nicht in einer systematischen Weise. Alles ist viel korrupter, im Sinne von: Alles ist möglich.
Natürlich gibt es auch Korruption in Deutschland. Aber im Alltag hören die meisten von uns nicht so viel davon. In Syrien dagegen, da begegnet es einem, wenn man seine eigenen Dokumente beim Amt abholt. Es ist etwas Alltägliches. Natürlich gibt es auch Regeln und Strukturen in Syrien – na ja, es ist kompliziert.
Die unterschiedlichen nationalen Systeme haben natürlich politische und ökonomische Gründe. Es wäre zu komplex, dies hier zu erörtern und zu vergleichen. Aber es sollte möglich sein, über die positiven und negativen Aspekte zu reflektieren; zu lernen und zu verändern.
Um darauf zurückzukommen, wie ich das System hier erlebt habe: Es ist sehr rigide, damit die Menschen Sicherheit haben. Aber gleichzeitig ist es auch nicht für die menschlichen Bedürfnisse konzipiert. Natürlich brauchen Menschen Sicherheit und Strukturen, aber Menschen brauchen auch Geschwindigkeit, dass die Dinge sich bewegen, dass es vorangeht und dass man gesehen wird.
Ich denke, das System hier sieht nicht immer die Menschen, das ist mein Problem damit, um ehrlich zu sein. Du bist kein Individuum mit einer Geschichte im System. Du bist eine Nummer, egal wie hoch deine Nummer ist. Ich höre es auch von meinen Kollegen*innen, sie haben manchmal das Gefühl, eine Nummer zu sein.
Und das System entwertet dich, wenn du es ansprichst.
Meinen Kollegen haben sie entgegen einer mündlichen Zusage entlassen.
Nach der Kündigung gab er der Leitung noch ein faires Feedback zum Abschied, dass er sich wie eine Nummer fühlt. Die Reaktion der Leitung und von den Kollegen war ‘Oh, er hat gar keine Wertschätzung für all die Zeit, die wir zusammen gearbeitet haben.’
Und er bekam nicht einmal ein Abschiedsgeschenk. Die Leute fühlten sich bedroht von der Kritik, die dieser Kollege ganz offen ausgesprochen hat. Dies ist eine Projektion. Wir haben Angst vor der Erkenntnis, dass es in unserem kapitalistischen System sehr schwierig ist, menschliche Werte zu wahren.
Es war lange so, dass man nicht wütend sein durfte. Aber jetzt, generationsübergreifend, erleben Kinder und Enkelkinder der Migranten diese Wut. Weißt du, was ich mal auf einer Wand gelesen habe, an einem Ort für Kunst? Es stand in der Toilette an der Wand. ‘Migration ist kein Hintergrund, es ist ein Recht.’
Ein starker Satz. Es ist das Recht von allen Menschen, hier sein zu dürfen. Sie arbeiten für ihr Leben und warum muss man darüber immer als Hintergrund sprechen? Es ist etwas Stolzes, es ist, was ich mit an den Tisch bringe.
Das Ankommen in Deutschland ist generell ein längerer, bürokratischer Weg. Manchmal ist er von Zufälligkeiten geprägt, wie der Gesinnung einesr Prüfersin. Gleichzeitig ist die Anerkennung z.B. für Ärzte ein klarer Weg, mit guter Unterstützung vom Arbeitsamt. So kompliziert er auch sein mag, es ist möglich jeden Schritt nach Vorschrift abzuschreiten, um ans Ziel zu kommen. Und das Ziel war für Amira, einer unsicheren, unstabilen ökonomischen Landschaft zu entkommen.
Es entsteht eine Morph-Karte, wenn man sie bewegt, kommen verschiedene Motive zum Vorschein, alle existieren jedoch gleichzeitig auf der Pappe. Manche Strukturen des Systems kann man Schätzen, an manchen stößt man sich. Man passt sich als Mensch an die Gemeinschaft an, wünscht sich aber auch in der Fremde gesehen zu werden.
In unserer ökonomisch sicheren und stabilen Landschaft hier sehe ich eine Morphose: vielleicht können Strukturen auch beweglich und anerkennend sein und gleichzeitig wegweisend und Sicherheit geben?