Es war einer dieser Tage, an denen alles schiefzugehen schien. Schon seit den frühen Morgenstunden kam es mir so vor, als wäre die Welt gegen uns. Mein Partner und ich stießen auf Menschen, die uns das Leben schwer machten, und jede Begegnung fühlte sich an wie ein kleiner Kampf. Am Abend waren wir erschöpft, ausgelaugt von diesem endlosen Strom aus Frustrationen. Um den Tag wenigstens halbwegs versöhnlich ausklingen zu lassen, beschlossen wir, in die Stadt zu fahren. Wir nahmen den Bus und ließen uns von der Bewegung mitziehen.
Während wir fuhren, redeten wir – über Gott und die Welt, wie wir es oft tun, wenn wir Abstand suchen. Unser Gespräch floss dahin, bis ein älteres Ehepaar uns gegenüber Platz nahm. Ich dachte mir zunächst nichts dabei und sprach weiter mit meinem Partner. Diesmal ging es um die Unterschiede zwischen einem Jurastudium und der Polizeiausbildung – ein Thema, das uns immer wieder beschäftigte. Als wir an unserer Haltestelle ankamen, stiegen wir aus, und alles fühlte sich so normal an wie immer. Doch plötzlich blieb mein Partner stehen und sagte: „Hast du gemerkt, wie sich unsere Wortwahl verändert hat, als die beiden sich hingesetzt haben? Wir reden normalerweise nicht so miteinander.“
Seine Worte trafen mich unerwartet. Zunächst schüttelte ich den Kopf. Nein, ich hatte nichts bemerkt. Doch als ich darüber nachdachte, wurde mir klar: Er hatte recht. Irgendetwas war anders gewesen, als das Ehepaar da war. „Ich habe jedenfalls nichts bewusst verändert“, sagte ich zögernd. „Das sind Automatismen“, antwortete er nachdenklich. „Wir sind junge Ausländer, die in der Gesellschaft nach ihrem Platz suchen. Wir merken gar nicht mehr, wie wir uns anpassen, sobald wir uns beobachtet fühlen.“ Diese Worte hallten in mir nach. Sie deckten eine Wahrheit auf, die ich bisher nicht wirklich sehen wollte. Wie oft hatte ich mich selbst schon verstellt, ohne es zu merken? Wie oft hatte ich versucht, zu gefallen, um dazuzugehören, in einer Gesellschaft, die mich oft nur zögerlich akzeptierte? „Hm“, war alles, was ich herausbrachte. Doch in meinem Inneren machte sich ein bitterer Gedanke breit: Ich verändere mich aus Angst vor Ablehnung. Ich dachte an den Morgen zurück, als ich mich – wieder einmal – verstellt hatte, um bei einer deutschen Person einen guten Eindruck zu hinterlassen. Ich erinnerte mich an den subtilen Blick, der mich in eine Schublade steckte, und an mein eigenes Verhalten, das sich dieser Schublade sofort angepasst hatte. Ich hatte mitgespielt, weil ich es so gelernt hatte.
Später am Abend, als ich endlich zur Ruhe kommen wollte, stieß ich auf einen Artikel. Ein Psychiater, der mit Geflüchteten arbeitete, sagte darin etwas, das mich tief traf: „Jeder kann sich vorstellen, wie es einem geht, wenn man nirgendwo willkommen ist und ständig als Sündenbock herhalten muss. Die Ablehnung führt zu Verunsicherung. Die Verunsicherung führt zu mehr Ängsten. Und Ängste verstärken psychische Probleme.“ Ich las diese Worte, als wären sie für mich geschrieben. Sie brachten auf den Punkt, was ich seit Jahren fühlte, aber nie so klar benennen konnte. Doch an diesem Abend war ich zu müde, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Das Integrationsparadoxon – die ständige Suche nach Akzeptanz in einem Umfeld, das einem immer ein Stück fremd bleiben wird – das musste warten.
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