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Bescherung mit Hindernissen

Ein letztes Mal in diesem Jahr schreibt Lina in ihrem Newsletter „Salam und Privet“ über das Leben zwischen den Kulturen. Wie wird das Weihnachtsfest in ihrem kurdisch-russischen Elternhaus begangen – und welche Reaktionen gibt es darauf?

Bescherung mit Hindernissen
Fotograf*in: Hert Niks auf unsplash

Mit mehreren Kulturen aufzuwachsen, ist eine Übung in diplomatischer Geduld. Die eigentliche Zerreißprobe beginnt jedoch jedes Jahr im Dezember, wenn das Fest der Liebe in meiner Welt vor allem ein Fest der Frontlinien wird. Weihnachten – dieses seltsam universelle Ereignis, das eine Hälfte der Menschheit für die Verkörperung des Konsumwahns hält, während die andere es als spirituelle Festung gegen den Verfall der Werte verteidigt – hat in meinem Haushalt eine ganz eigene Dynamik.

Während in den Supermärkten Marzipankartoffeln und Lebkuchen das letzte Drittel des Jahres regieren, bricht für mich der wahre Wahnsinn erst in der Adventszeit aus. Nicht nur, weil man sich plötzlich überlegt, ob man wirklich schon wieder Plätzchen backen muss, sondern weil alljährlich die großen Moralhüter*innen der Nation aus ihren Löchern kriechen und meinen, ihre Weihnachtsbelehrung verteilen zu müssen.

Draußen tobt der jährliche Kulturkampf: „Warum feiern Nicht-Christ*innen Weihnachten?!“ schreien die einen, während die anderen mürrisch mit hochgezogenen Augenbrauen kontern: „Es ist doch nur ein bisschen Lichterkette und Plätzchenduft, entspannt euch.“

"Denn was diese Prediger*innen nicht wissen, ist, dass ich mehr Kulturen und Religionen in mir trage, als ihnen lieb sein dürfte"

Jedes Jahr bekomme ich durch irgendeinen algorithmischen Zufall diese Predigten in die Timeline gespielt: Mahnungen, dass Nicht-Christ*innen gefälligst die Finger von Weihnachtsbäumen und Adventskränzen lassen sollten. „Das ist Heuchelei!“, rufen sie. „Das ist Sünde!“ Manche gehen noch einen Schritt weiter und prophezeien, dass Andersgläubige, die Weihnachten feiern, zusammen mit den Kerzen auf dem Adventskranz in der Hölle brennen würden. Ehrlich gesagt: Es belustigt mich mehr, als es mich ärgert.

Denn was diese Prediger*innen nicht wissen, ist, dass ich mehr Kulturen und Religionen in mir trage, als ihnen lieb sein dürfte. Ich bin kein wandelndes Klischee und doch die Verkörperung dessen, was sie fürchten: ein Mensch, der irgendwie alles und nichts ist, der Weihnachten feiert, ohne je zur Kirche zu gehen, und der seine eigene Identität in einem kunterbunten Chaos vereint.

Inmitten dieser hitzigen Diskussion sitze ich da, Handy in der Hand, den Daumen über der „Story teilen“-Taste schwebend, und frage mich, ob ich dieses Jahr den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer öffentlich machen kann. Nicht, dass jemand falsch versteht, wie der Baum dahin gekommen ist – oder warum er überhaupt da steht.

Denn dieser Baum, so scheint es, hat eine Symbolik, die über die reine Dekoration hinausgeht. Zwischen den Zweigen schimmern nicht nur Kugeln und Lichter, sondern auch die stillen Kompromisse einer interkulturellen Familie, die versucht, alles und jeden unter einen Stern – oder besser gesagt, eine Lichterkette – zu bringen. Unser Weihnachtsbaum ist dabei weder minimalistisch noch dezent. Nein, er ist ein Monolith der Festlichkeit: geschmückt bis zur Grenze des guten Geschmacks, ein Spektakel, das gleichermaßen an russische Opulenz wie an die Pracht eines kurdischen Hochzeitssaals erinnert. Wäre dieser Baum ein Mensch, er hätte mindestens drei goldene Armbänder und eine funkelnde Tiara.

Der Weihnachtsbaum, der da in unserem Wohnzimmer steht, ist jedoch kein Verrat an irgendeiner Religion. Er ist ein Symbol meines Lebens – ein leuchtender, überladener Kompromiss zwischen Ost und West. Dieser Baum ist so wenig „nur“ christlich, wie ich es bin.

Es ist erstaunlich, was Weihnachten in unserer Familie bedeutet. Mein Vater, ein kurdischer Mann, der Weihnachten erst über die Ehe mit meiner russischen Mutter kennengelernt hat, könnte sich dieses Fest inzwischen nicht mehr wegdenken. Für ihn ist es längst mehr als ein religiöses Ritual, sondern eine Zeit, in der die Familie zusammenkommt, die Welt kurz stillzustehen scheint und man sich in all dem Glanz und Chaos ein bisschen fallen lassen kann.

"Wenn ich ehrlich bin, habe ich diesen berühmten Weihnachtsgeist seit Jahren nicht mehr gespürt"

Dagegen hat meine Mutter ihre russisch-orthodoxen Traditionen, die sie in ihrer Jugend mit so viel Hingabe gepflegt hat, irgendwann gegen die katholischen Weihnachtstraditionen getauscht – wahrscheinlich nicht aus Überzeugung, sondern aus Pragmatismus. Der 24. Dezember war einfacher für alle, und irgendwann wurde er zum neuen 7. Januar. Und obwohl ich mir sicher bin, dass sie manchmal ihre orthodoxen Wurzeln vermisst, ist sie glücklich. Für sie zählt nicht das genaue Datum oder die Art des Gottesdienstes, sondern, dass wir zusammen sind.

Und ich? Wenn ich ehrlich bin, habe ich diesen berühmten Weihnachtsgeist seit Jahren nicht mehr gespürt. Vielleicht liegt es daran, dass Schnee in unseren Breitengraden inzwischen so selten ist wie stille Feiertage. Vielleicht auch daran, dass der Gedanke an ein religiöses oder kulturelles „Fest“ bei mir unweigerlich mit dieser absurden inneren Fragerei verbunden ist: „Wird das jemand falsch verstehen? Und wenn ja, warum kümmert mich das überhaupt?“

Ob Bayram oder Weihnachten – religiöse Feste waren für mich schon immer eine Herausforderung. Ich schätze sie für das, was sie an Gemeinschaft schaffen: das Zusammenkommen, das Essen, die Gespräche. Doch sobald es konkret um Religion geht, setzt bei mir eine innere Unruhe ein, fast wie ein leichter Knoten im Magen. Es spielt keine Rolle, um welche Religion es sich handelt. Ich möchte nicht mitten im Gespräch aufstehen müssen, um zu beten, und gleichzeitig widerstrebt es mir, allein sitzen zu bleiben, während alle anderen sich in der Mitte des Raumes zum Gebet versammeln.

"Wäre die Hölle tatsächlich so voll von Leuten, die Weihnachten feiern, hätte ich wenigstens gute Gesellschaft"

Die Frage, ob ich dieses Jahr den Baum in meiner Instagram-Story zeige, ist deshalb zugleich auch die Frage, ob ich mich noch einmal von Menschen tadeln lassen will, die nichts von mir oder meiner Welt wissen. Ja, ich könnte die Story posten – und mich danach wieder mit Kommentaren wie „Hast du deine Wurzeln vergessen?“ oder „Das ist doch haram!“ auseinandersetzen. Doch genau in diesen Momenten denke ich daran, wie absurd es ist, dass Menschen mit einer Selbstsicherheit predigen, die ich nicht mal hätte, wenn ich einen Master in Theologie oder Islamwissenschaft hätte.

Um ganz ehrlich zu sein, amüsiert es mich, wenn sich selbsternannte Prediger*innen aufregen. Tief in mir denke ich jedes Mal: Wäre die Hölle tatsächlich so voll von Leuten, die Weihnachten feiern, hätte ich wenigstens gute Gesellschaft. Aber nein, für mich ist Weihnachten kein religiöser Verrat, sondern eine Gelegenheit, das Unmögliche zu vereinen. Der Weihnachtsbaum wird bei uns zum Friedensangebot, stärker geschmückt als jede Braut an ihrem Hochzeitstag, bewundert und belächelt, aber immer da.

Während draußen die großen Kulturkämpfe toben, bleibt es in meinem Wohnzimmer seltsam still. Der Baum glitzert, der Tee dampft, und ich entscheide mich, die Story doch zu posten. Nicht, weil ich muss, sondern weil ich kann.

In diesem Sinne, fröhliche Weihnachten und einen guten Rutsch in das neue Jahr!

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