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5 Min. Lesezeit Persönliche Geschichten

Berfin Orman: Dekolonialisierung im Theater

Berfin Orman ist transnationale Künstlerin und Theaterregisseurin. Aktuell arbeitet sie an der Inszenierung von Cihan Acars „Hawaii“ am Theater Bremen. Im Interview erzählt sie, welche Erfahrungen sie als Woman of Color gemacht hat und was Dekolonialisierung im Theater für sie bedeutet.

Berfin Orman: Dekolonialisierung im Theater

Berfin, du bezeichnest dich als „transnationale Künstlerin“. Was meinst du damit?

Der Begriff beinhaltet für mich all die Erfahrungen, die Menschen mit Migrationsgeschichten in Deutschland machen. Diese sind an vielen Orten beheimatet, meistens an Orten, die getrennt voneinander gedacht werden, wie beispielsweise verschiedene Kontinente. Eine transnationale Künstlerin zu sein bedeutet für mich demnach, „ich“ zu sein: ein Mensch, der an mehreren Orten beheimatet ist und zugleich ein Mensch, der politisch die Idee von Nationen hinterfragt. Ich bin nicht nur deutsch und nicht nur kurdisch. Ich fühle mich nicht ausschließlich einer bestimmten Kultur zugehörig. Meine Identität geht über die Kategorie deutsch-kurdisch hinaus.

Wie bezieht sich dieser Begriff auf deine Arbeit?

Die Idee, von einer Welt, die über nationale Grenzen hinausgeht, versuche ich in meine Arbeiten hineinzuweben. Ich hoffe, dass ich mit meinen Inszenierungen erzählen kann: „Hey Leute, Nationen sind voll überholt! Let’s envision a transnational world, maybe a postnational world“. In meinen Inszenierungen, wie zum Beispiel in „Hawaii“ oder „Hanans Geschichte“, spielt die Vermischung von kulturellen Identitäten eine wichtige Rolle. Ich möchte über die Grenzen Deutschlands hinaus arbeiten und mich vernetzen.

Für mich ist es wichtig, Theater nicht nur im Kontext meiner Wahlstadt Hamburg zu betrachten, sondern im globalen Kontext zu erkunden. Was bedeutet Kunst, Theater und Gerechtigkeit über meinen Kosmos hinaus? Zusammengefasst sollte das auch bedeuten: weniger Kapitalismus, mehr politische Bündnisse, globale Solidarität und transnationale künstlerische Visionen.

"Mir ist es wichtig, Kolonialität in klassischen Stoffen zu thematisieren"

Welche Herausforderungen musstest du als Woman of Color auf dem Weg zur Theaterregisseurin meistern?

Für mich sind Theater nicht nur Kunst-Institutionen, sondern auch politische Institutionen. Diese Einrichtungen erhalten staatliche Gelder und stellen gesellschaftliche Orte dar. Die politische Dimension des Theaters breiter zu denken, liegt mir am Herzen. Die Institutionen labeln sich gerne als divers. Gleichzeitig erleben marginalisierte Künstler*innen oft Vereinzelungsgefühle und Druck, sich an die Dominanzgesellschaft und an die weißen Institutionen anzupassen. Wir dürfen bloß nicht zu wütend und zu fordernd sein. Ich finde es wichtig, Dialoge einzugehen und Meinungsverschiedenheiten auszuhalten. Ich verändere mich auch täglich UND überdenke meine Meinungen. Doch für einen offenen Dialog brauchen wir neben individueller Selbstkritik unbedingt mehr offene Kritikmöglichkeiten in Richtung der institutionellen Funktionsweisen.

Kannst du ein persönliches Ereignis mit uns teilen?

In institutionellen Umgebungen empfinde ich häufig den Druck, mich auf eine bestimmte Art und Weise auf Deutsch ausdrücken zu müssen, um ernst genommen zu werden. Diese Herausforderung betrifft nicht nur das Theater, sondern zieht sich durch verschiedene Bereiche. Es ist mir ein Anliegen, die Definition von gutem und schlechtem Deutsch auf der Bühne zu hinterfragen. Als Woman of Color und aufgrund meiner Mehrsprachigkeit, setzte ich mich mit den verschiedenen Nuancen der deutschen Sprache auseinander. Mir ist es wichtig, Kolonialität in klassischen Stoffen zu thematisieren. Sprache ist da für mich ein wichtiges Tool.

"Ich will lieber einen Bösewicht von Shakespeare inszenieren, anstatt die „perfekte migrantische Geschichte“"

Gibt es klassische Werke, mit denen du dich identifizieren kannst?

Die Frage ist etwas tricky. Ich kann mich nicht damit identifizieren, wie die Werke in der Mehrheitsgesellschaft gelesen werden. Zugleich finde ich mich sowohl privat als auch als Theaterregisseurin in den Werken von Shakespeare und Gorki wieder. Die Texte beinhalten Dialoge oder einzelne Sätze, wo ich meinen Blick auf die Welt sehe oder die meiner Familie und Freund*innen. Das ist das, wofür ich brenne, sogenannte Kanon-Literatur zu dekolonialisieren. Es ist ein diskriminierender Moment, wenn wir auf der Bühne Figuren mit Diskriminierungserfahrungen nicht als komplexe Figuren, also als Menschen über jene Erfahrungen hinaus, begreifen.

Deswegen interessiert es mich umso mehr, eine Woman of Color als Bösewicht, eine Liebesgeschichte, in der race offen diskutiert wird, oder Diskussionen um Machtverhältnisse aus Perspektive des globalen Südens zu inszenieren. Das ist der Grund, warum ich lieber einen Bösewicht von Shakespeare inszenieren will, anstatt die „perfekte migrantische Geschichte“. Ich finde dieses Neudenken von alten Erzählungen interessant.

Wie würdest du demnach Shakespeare neu interpretieren?

Die Figuren von Shakespeare sind häufig als weiße Personen angelegt und werden in den meisten Fällen nur als weiße Personen gelesen, gedeutet und besetzt. Es gibt wenige BIPoC-Figuren und diese sind oft mit Stereotypen behaftet.
Zugleich sind die Figurenwelten in den Werken von Shakespeare komplex und die Textsprache sehr poetisch, weshalb die Texte bis heute viel gespielt und immer wieder neu interpretiert werden.

Was mich interessiert, ist, diese seit Jahren erzählten Figuren zu verändern. Also nicht nur zu sagen, okay, ich besetzte weiße Figuren mit BIPoC-Schauspieler*innen, sondern darüber hinaus die Inszenierung vollständig umzuschreiben. Ich würde liebend gerne die politischen Probleme und Fragen aus meinen Erfahrungen und denen meiner Familie und meines Freundeskreises mit einer neuen poetischen und postmigrantischen Adaption Shakespeares verbinden.

Es gibt ein Zitat von Maya Angelou, welches ich oft in Panels zitiere. Sie ist eine afro-amerikanische Autorin und Denkerin und war als Kind stumm. Als sie die Sonette von Shakespeare las, erkannte sie sich selbst als Schwarzes Mädchen in den Texten wieder. Mich berührt dieses Zitat sehr. Es steht für mich u. a. für die Idee, dass sich Personen aus marginalisierten Gruppen den Kanon nehmen und es sich zu eigen machen.

"Ich wünsche mir mehr Solidarität zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden"

Was bedeutet es für dich, BIPoC-Perspektiven im Theater zu repräsentieren?

Ich setze mich dafür ein, dass ich meine Kunst machen kann und dass ich die Themen, die mich beschäftigen, erzählen und zeigen kann. Dazu gehört die Repräsentation von BIPoC-Figuren und die Rechte von BIPoC-Kunstschaffenden.
Teilweise sind BIPoC repräsentiert, aber wir brauchen mehr Rechte. Daher bin ich im BIPoC-Netzwerk aktiv. Ich wünsche mir mehr Solidarität zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden, eine ausgeglichene Welt, eine gerechtere Gesellschaft und vielfältige Perspektiven auf die deutsche Gesellschaft. Ich kann mich nicht für BIPoC-Perspektiven einsetzen, ohne mich für weitere marginalisierte Perspektiven einzusetzen.

Wie möchtest du die Idee der Dekolonialisierung in deinen Inszenierungen weiterdenken?

Dekolonialisierung ist für mich weit mehr als ein politisches Schlagwort wie z. B. „Jin, Jiyan, Azadî“. Ich setzte mich auch für die Freiheitsbewegung von kurdischen Frauen ein, aber nicht nur mit dem Spruch, den ich auf die Front eines Theaters schreiben kann, denn das reicht nicht aus. Ich versuche vielmehr die Bedeutung dahinter zu verstehen.

Für mich persönlich bedeutet Dekolonialisierung, konsequent für die Befreiung und Freiheit aller Unterdrückten dieser Welt zu kämpfen und dem Theater wieder mehr politischen Wind und Kraft zu verleihen. Es geht nicht um linke Parolen, sondern darum zu verstehen, was in unserer Welt nicht in Ordnung ist und wie sich das in Kunst und den Institutionen widerspiegelt. Was können wir für einen Wandel tun und welches Potenzial schöpfen Institutionen noch nicht ausreichend aus? Meiner Meinung nach ist das Theater nämlich schnarchig-politisch und es kommt über politisches linkes Marketing oft nicht hinaus, das ist das Problem. Dann wird Dekolonialisierung zu einem Wort und nicht zu einem konsequenten Kampf.

Welchen Rat würdest du deiner jüngeren Version oder anderen BIPoC-Kunstschaffenden geben, die in die Welt des Theaters einsteigen möchten?Um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich stolz auf mein jüngeres Ich. Generell würde ich allen Leuten raten, dass man sich nicht zu ernst nimmt. Mal ein- und auszuatmen, bevor man private und berufliche Entscheidungen trifft. Ich bin ein sehr impulsiver Mensch und dafür würde ich meinem jüngeren Ich mehr Geduld und Ausgeglichenheit mit auf den Weg geben. Ich würde meinem inneren Kind mit einem Zitat von Ms Lauryn Hill antworten – auch wenn das etwas kitschig ist. Die Zitate sind aus dem MTV-Unplugged Konzert:

„I am changing, because God is changing me. I’m evolving.“

Das sagen auch Alevit*innen, dass die höchste Stufe der Nähe zum Göttlichen ist, sich selbst zu erkennen. Danach versuche ich zu leben.

Berfins Instagram: https://www.instagram.com/berfinwald/

Die nächsten Vorstellungstermine von „Hawaii“ von Cihan Acar finden ab Juni 2024 im Theater Bremen statt.

Die Tickets gibt es auf der Website vom Theater Bremen:

www.theaterbremen.de

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