Hallo, mein Name ist Omid Rezaee, freier Journalist, Buchenthusiast und dein persönlicher Buchkritiker. Willkommen zur fünften Ausgabe von „migrantisch gelesen“!
In einem Gespräch mit einer klugen Kollegin, in dem wir uns über die Belastung durch die Arbeit und ähnliche Themen austauschten, machte sie eine interessante Beobachtung: Menschen mit Migrationsgeschichte sagen selten Anfragen ab. Sie tendieren dazu, jede Gelegenheit wahrzunehmen, aus Angst, es könnte die letzte sein. Dahinter steckt oft der Glaube, sich immer wieder beweisen zu müssen und mehr leisten zu müssen als andere.
Dieses Verhalten habe ich auch bei mir selbst oft festgestellt. Obwohl ich als freier Medienschaffender häufig bis über beide Ohren in Arbeit stecke, fällt es mir schwer, neue Aufträge abzulehnen. Mein erster Gedanke ist oft, dass ich diese Chance nicht noch einmal bekommen werde – ein Gedanke, der sich oft als trügerisch erweist.
In diesem Zusammenhang hat mir das Buch Alle_Zeit von der Journalistin Teresa Bücker die Augen geöffnet. Bückers feministischer Blick auf Gesellschaft, Machtstrukturen und insbesondere auf das gesellschaftliche Konzept der Gegenwart bietet nicht nur eine treffende Analyse der aktuellen Situation, sondern auch konkrete Vorschläge für einen gerechteren Zugang zu unserer wertvollsten Ressource: Zeit.
Tipp der Woche

In „Alle_Zeit“ fordert Teresa Bücker nichts Geringeres als eine Revolution des Umgangs mit der Zeit. Sie analysiert eindringlich die ungleiche Verteilung von Zeitressourcen in unserer Gesellschaft und kritisiert die stetige Überlastung durch Arbeit und gesellschaftliche Erwartungen. Besonders hebt sie hervor, wie diese Missstände vor allem Frauen betreffen, die neben der Erwerbsarbeit auch noch den Großteil der Sorgearbeit tragen. Bückers Vision einer neuen Zeitkultur, in der alle Menschen ausreichend Zeit für Arbeit, Fürsorge und Selbstfürsorge haben, regt zum Nachdenken und Umdenken an – ein Buch, das wichtige Impulse setzt.
„Meine Wut ist einer der Antriebe, die ich zum Schreiben nutze“

Als ich diesen Newsletter ins Leben gerufen habe, habe ich mir eines versprochen: Hier wird nicht über Rassismus und Diskriminierung gejammert. Ich werde uns nicht als machtlose Opfer zeichnen, denn das sind wir nicht. Dennoch kommen wir nicht umhin, über Rassismus zu sprechen. In der letzten Ausgabe habe ich Gilda Sahebis Sachbuch Wie wir uns Rassismus beibringen vorgestellt. Diesmal möchte ich jedoch eine literarische Perspektive aufgreifen. Drei Kameradinnen von Shida Bazyar, das auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021 stand, schildert die Geschichte von drei Freundinnen aus migrantischen Familien in Deutschland. Mit bemerkenswerter Präzision beschreibt Bazyar die Details so eindringlich, dass man sich beim Lesen immer wieder selbst darin erkennt. Und genau diese Erkenntnis macht wütend. Der Roman ist wie ein vorwurfsvoller Brief an die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Foto: Tabea Treichel
Mit Shida Bazyar habe ich nicht nur über diese Vorwürfe gesprochen, sondern auch darüber, welche Bedeutung Freundschaft für Menschen hat, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung zur Wehr setzen.
In der vorherigen Ausgabe dieses Newsletters sagte mir Behzad Karim Khani: „Dem deutschen Literaturbetrieb fehlt das, was auch dem Rest Deutschlands fehlt – Schub von der Straße.“ Das erinnerte mich an einen Podcast zum zehnten Jahrestag der sogenannten Kessler-Debatte, in dem du sinngemäß fragst: „Wusstet ihr das nicht? Was ist daran neu?“ Würdest du sagen, dass die zeitgenössische deutsche Literatur weiterhin homogen und zuweilen langweilig ist?
Ich würde sagen, dass wir immer noch damit beschäftigt sind, darum zu ringen, dass sie nicht homogen und langweilig bleibt. Zu sagen, dass sie es noch immer ist, würde ja leugnen, wie viele unkonventionelle und mutige Texte es in den letzten Jahren gab. Aber man sieht doch recht deutlich, dass diese Texte immer noch eher als Ausnahmen, sozusagen als „Gäste“ in der deutschen Literaturlandschaft gelten. Eine richtige Selbstverständlichkeit erarbeiten wir uns und das fühlt sich in manchen Phasen (nach Veröffentlichungen von Nominierungslisten oder
Verlagsprogrammen) dann oft an wie ein Kampf gegen Windmühlen.
In „Drei Kameradinnen“ stellst du Freundschaft – oder besser gesagt Sisterhood – als zentralen Widerstandsort gegen Rassismus und gesellschaftliche Ausgrenzung dar. Der Titel der englischen Ausgabe lautet „Sisters in Arms“. Könntest du näher darauf eingehen? Welche Rolle spielen Freundschaft und Solidarität im Kampf gegen Ungerechtigkeit in deinen Augen?
Geschichten von Frauenfreundschaften wurden jahrzehntelang belächelt und das ist kein Zufall. Wo sich „Minderheiten“ zusammentun, werden sie immer zur Gefahr für das etablierte System. Auch die zermürbenden Diskussionen über „Parallelgesellschaften“, die man zur Diskreditierung von migrantisierten Menschen so hartnäckig führt, folgen dem gleichen Prinzip. Es ist nämlich so simpel, wie es immer schon war: wo Menschen einander vertrauen und aufeinander aufpassen, werden sie stark und wehren sich. Was wir im Moment aber außerdem dringend brauchen, sind mehr Austausch und Zusammenhalt zwischen den einzelnen Gruppen – sofern sie überhaupt so trennscharf zu unterscheiden sind.
Denn es ist ja eine sehr perfide Strategie, die im aktuellen politischen Diskurs angewandt wird. Im dringenden Kampf gegen Antisemitismus wird strategisch gegen migrantisierte, muslimische und Schwarze Menschen argumentiert und sie werden unter Generalverdacht gestellt. Deswegen ist es so wichtig, dass die Bündnisse unter den verschiedenen Gruppen stärker werden und dazu gehört eben auch, sich ernsthaft mit den jeweiligen -ismen auseinanderzusetzen, von denen man nicht selbst betroffen ist. Ich fürchte, es mangelt gerade an beidem: dem Schulterschluss wie der Selbstreflexion. Würde ich heute „Drei Kameradinnen“ schreiben, würde ich es um viele Kreise erweitern.
In beiden deiner Bücher steht die Suche nach persönlicher und kollektiver Identität im Mittelpunkt. Wie erlebst du selbst das Spannungsfeld zwischen deiner deutschen Heimat und der iranischen Herkunft deiner Familie? Beeinflusst dieser Dualismus – falls du ihn so empfindest – deine literarische Arbeit?
Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es selbst nicht so genau. Ich weiß nicht so richtig, was das „Iranische“ in mir ist, was das „Deutsche“ – einen Dualismus verspüre ich also offenbar nicht. Aber ich weiß sehr genau, dass mein politisches Denken und mein Gefühl für Ungerechtigkeiten zu einhundert Prozent aus der desaströsen und nicht auszuhaltenden Situation Irans kommt.
Ich habe eine solche Wut in mir, dass es mich an manchen Tagen zerreißt und diese Wut kann ihre Auslöser überall finden, wo Menschen unterdrückt werden und Ideolog*innen ihre unberechtigte Macht walten lassen. Diese Wut ist einer der Antriebe, die ich zum Schreiben habe und ich kann sie biografisch vermutlich guten Gewissens zurückführen auf das System, das meine Eltern verfolgt hat und das noch immer Menschen tötet, misshandelt und unterdrückt.
Könntest du uns zwei oder drei literarische oder non-fiction Werke nennen, die für deinen literarischen Werdegang und deinen Erfolg als Autorin besonders prägend waren?
„Persepolis“ von Marjane Satrapi hat mich mit vierzehn weggeblasen und war der direkte Anstoß für sehr viele Texte, die ich seitdem geschrieben habe. Olga Grjasnowas „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ habe ich gelesen, als ich gerade anfing, an meinem ersten Roman zu schreiben und es hat mich so wahnsinnig inspiriert und motiviert, das zu erzählen, was ich selbst lesen möchte – unabhängig davon liebe ich den Roman aber auch als Text nach wie vor. Und zuletzt hat mir Emine Sevgi Özdamars „Ein von Schatten begrenzter Raum“ auf ästhetischer Ebene gezeigt, wie viel wir mit Sprache und Form wagen können, wenn wir Unfassbares zu greifen versuchen.
Drei KameradinnenShida Bazyar schafft es in „Drei Kameradinnen“, die Komplexität von Freundschaft und Identität eindrucksvoll zu verweben. Der Roman folgt Hani, Kasih und Saya, die sich ihrer Herkunft und den damit verbundenen Vorurteilen stellen müssen, während ihre enge Bindung ihnen Halt gibt. Bazyar zeigt dabei ungeschönt die Realität von Alltagsrassismus und rechten Strömungen in Deutschland. Doch trotz der Härte ihrer Erfahrungen steht die Solidarität der drei Frauen im Mittelpunkt. Ihre Kämpfe sind auch die Kämpfe vieler anderer – und Bazyars kraftvolle Erzählweise sorgt dafür, dass ihre Stimmen nicht überhört werden.

Zusammengefasst: Wir müssen lernen, mit unserer kostbarsten Ressource, der Zeit, bewusster umzugehen. Auf persönlicher Ebene bedeutet das, die Fähigkeit zu entwickeln, auch einmal Nein zu sagen. Aber im Grunde braucht es auch auf gesellschaftlicher Ebene einen Wandel, damit alle genug Zeit haben – eine Umverteilung dieser wertvollen Ressource ist unerlässlich.
Vielleicht ist dir aufgefallen, dass ich in letzter Zeit meinen Gesprächspartner*innen nicht nur Fragen zu ihrem Schreiben stelle, sondern auch zu den Herausforderungen und Chancen im deutschen Literaturbetrieb. Das war ein Wunsch, den viele von euch an diesen Newsletter herangetragen haben, und ich freue mich, diesen Aspekt weiter zu vertiefen.
Wenn du andere Gedanken, Fragen, Anmerkungen oder Themenvorschläge hast, die dir beim Lesen dieser Ausgabe in den Sinn gekommen sind oder die du gerne im Newsletter sehen würdest, schreib mir gerne eine E-Mail an omid@kohero-magazin.de
Bis bald und liebe Grüße,
Dein Omid
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