in letzter Zeit konnte ich leider keine neue Folge dieses Newsletters schreiben. Das lag nicht daran, dass es weniger Informationen gab – im Gegenteil –, sondern daran, dass ich mir einfach eine kleine Pause genommen habe. Während dieser Pause habe ich allerdings viele Nachrichten gelesen und analysiert. Nun ist es ein wenig schwierig, nach der kurzen Auszeit wieder einen neuen Newsletter zu verfassen.
Zunächst möchte ich über Ahmad al-Sharaa (al-Joulani) sprechen, der die Leitung von HTS innehat. In der vergangenen Woche hat er sein äußeres Auftreten verändert und seinen Anzug voller Selbstbewusstsein getragen – nicht allein, sondern in Zusammenarbeit mit fast allen neuen Ministern. Die Bilder zeigen, dass HTS nun als politische Kraft auftreten möchte und nicht länger als Rebellengruppe agieren will. Genau das hat Al-Sharaa auch in mehreren Interviews betont, zumal viele arabische Länder große Angst davor haben, dass aufgrund des Sturzes von Assad ein neuer „Arabischer Frühling“ entstehen könnte.
Ich habe die Interviews mit Al-Sharaa angehört und bis jetzt zeigt sich, dass er ein sehr fähiger Politiker ist. Er sagt genau das, was andere Länder hören möchten. Jede seiner Botschaften wirkt, als lese er sie aus einem Handbuch ab. Auf bestimmte Fragen geht er allerdings nicht direkt ein. Das macht deutlich, dass wir es mit einer vollkommen neuen Art von Politikern zu tun haben, die sich an die gesamte arabische Welt richten und dabei ausgerechnet aus Syrien kommen – einem Land, das für viele arabische Staaten stets als Vorbild galt oder vielleicht immer noch gilt.
Syrien war das erste Land, das sich vom Kolonialismus befreite. Dort fand auch der erste Militärputsch statt, bevor weitere arabische Länder Ähnliches erlebten. Außerdem entstand die Idee, dass Assad seine Macht an seine Kinder vererben könnte, was später auch in Libyen, Ägypten und dem Irak versucht wurde. Gleichzeitig kommt aus Syrien die Baath-Partei mit ihrer Idee des arabischen Nationalismus. Sie wollte eine „arabische Nation“ begründen, doch Syrien unter der Baath-Partei hat dafür viel Schmerz und Blutvergießen erleiden müssen.
Al-Sharaa hingegen scheint anstelle dieses arabischen Nationalismus eher eine islamisch geprägte Form von Nationalismus zu verfolgen, ähnlich den Ansätzen von Mostafa El-Feki, dem ägyptischen Autor und ehemaligen Diplomaten. El-Feki meint: „Al-Sharaa und seine Gruppe vertreten eine völlig andere Denkrichtung und gehören zu einer vollkommen anderen Schule als das Übergangsdenken, das die Region seit den Tagen Adib asch-Schischaklis, Gamal Abdel Nassers und Muhammad Nagibs kennt. Es handelt sich um vollkommen andere Revolutionäre, die ich in diesem Sinne an den Rand stelle.“
Zudem übt Al-Sharaa offenbar einen neuen intellektuellen Einfluss aus, der auf einer moderneren islamischen Identität beruht. Das ist etwas völlig anderes als die Baath-Partei und zugleich ein anderer Weg als der jener Muslimbruderschaft, die beide für eine recht harsche Rhetorik bekannt sind. Al-Sharaa hingegen wirkt vergleichsweise gemäßigt. Übrigens vertritt die Muslimbruderschaft meiner Ansicht nach eher einen „säkularen Islam“ türkischer Prägung, also eine Art „türkischen Säkular-Islam“.
Die Frage ist: Was bedeutet das genau für Syrien und die Syrer*innen? Welche neue Form des säkularen Islam wird sich am Ende in Syrien etablieren? Auf diese Frage wird nur die Zeit eine Antwort geben.
Ich wünsche dir einen guten Rutsch ins neue Jahr.
PS: Danke und shukran, dass du dabei bist! Falls du neu dazu gekommen bist, fülle bitte diese kurze Umfrage aus.
Eine kurze Zusammenfassung der Lage:Israelische Truppenpräsenz in Syrien
- Israelische Offiziere warnen vor einer möglichen Eskalation der Gewalt, sollte die israelische Armee länger in kürzlich besetzten Gebieten in Syrien verbleiben.
- Die Soldaten fühlen sich frustriert, da es keine klaren Einsatzziele gebe.Fälschung von Pässen in der syrischen Botschaft im Libanon
- Ermittlungen laufen, nachdem bekannt wurde, dass die Botschaft an der Fälschung von Pässen für Angehörige der Assad-Familie beteiligt war.
- Die syrischen Behörden haben den Betrieb der Botschaft vorübergehend eingestellt, um herauszufinden, ob weitere Familienmitglieder die gefälschten Dokumente nutzen wollten.Maritime Grenzen zwischen Türkei und Syrien
- Der türkische Verkehrsminister kündigte an, mit Damaskus über die Festlegung von Seegrenzen im Mittelmeer verhandeln zu wollen.
- Griechenland lehnt ein solches Abkommen ab, da in Damaskus nur eine Übergangsverwaltung bestehe. Es warnt vor möglichen Beeinträchtigungen seiner eigenen Hoheitsrechte.Kämpfe zwischen SDF und pro-türkischen Milizen
- Seit 20 Tagen dauern Gefechte nahe der Kara-Kosak-Brücke und beim Tishrin-Staudamm an.
- Rund 120 Menschen kamen dabei bereits ums Leben.Über 112.000 Vermisste
- Das Syrische Netzwerk für Menschenrechte berichtet von mehr als 112.000 gewaltsam Verschwundenen unter dem Assad-Regime, trotz angeblich geöffneter Gefängnisse.
- Zwar wurden Tausende freigelassen, doch bleiben sehr viele weiterhin vermisst.Erste Spannungen in Syrien seit dem Sturz des alten Regimes
- Bei einem Versuch, einen Funktionär des alten Regimes festzunehmen, entfachten Proteste, die sich insbesondere in Regionen mit alawitischer Bevölkerung ausweiteten.
- Es kam zu Drohungen, Moscheen niederzubrennen, und zum Waffeneinsatz.
- 14 Kämpfer der „Verwaltung der Militäraktionen“ kamen ums Leben.Rückkehr syrischer Geflüchteter
- Der türkische Innenminister meldete, dass 30.000 Syrer*innen innerhalb von 17 Tagen in ihre Heimat zurückgekehrt sind.Verhaftungen
- Die Syrische Beobachtungsstelle dokumentiert die Festnahme von rund 300 Personen binnen einer Woche, darunter Militärangehörige und Assad-Anhänger.Zustand syrischer Flughäfen
- Ankara will Expertenteams nach Damaskus und Aleppo schicken, um Modernisierungsbedarfe zu bewerten.
- Türkische Minister kritisieren den veralteten Zustand der Flughäfen und planen mögliche Kooperationen mit der neuen syrischen Führung beim Ausbau der Infrastruktur.Binnenvertriebene
- Laut des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UN-OCHA) sind seit Assads Sturz rund 486.000 Binnenvertriebene in ihre Heimatgebiete in Aleppo und Hama zurückgekehrt, während noch immer etwa 664.000 Menschen neu vertrieben sind (viele davon in Idlib).
Aufsehen aufgrund der Äußerungen zur Zukunft syrischer Frauen Die Aussagen von Aisha ad-Dibs, Leiterin des „Büros für Frauenangelegenheiten“ in der syrischen geschäftsführenden Regierung, während eines Interviews mit dem türkischen Sender „TRT“ zum Status der Frau in der neuen Verwaltung des Landes, haben unter Aktivist*innen in den sozialen Netzwerken für heftige Diskussionen gesorgt. Ad-Dibs betonte in ihren Ausführungen, dass es „derzeit kein fertiges Modell für die syrische Frau gibt. Wir warten darauf, uns mit allen zusammenzusetzen und einen Dialog zu führen. Die islamische Scharia ist die grundlegende Basis für jedes Modell.“ Sie fragte weiter: „Warum sollten wir ein säkulares oder ziviles Modell übernehmen?“
Außerdem bekräftigte Ad-Dibs, dass jede Einrichtung, die im Bereich der Frauenarbeit tätig werden möchte, „mit dem Modell übereinstimmen“ müsse, dessen Vision die neue Verwaltung zu entwickeln beabsichtigt. Gleichzeitig stellte sie klar, dass die Frau „für sich selbst, ihren Ehemann und ihre Familie zuständig“ sei und dies ihre Hauptprioritäten seien. Die Aussagen der Leiterin des „Büros für Frauenangelegenheiten“ in der syrischen geschäftsführenden Regierung stießen auf breite Kritik und sorgten für eine Kontroverse über die Zukunft der Frauen im Land.
Einheit in Syrien?Patriarchen und Kirchenoberhäupter in Syrien bekräftigen am heutigen Sonntag die Einheit des Landes und betonen ihre Überzeugung, dass das „neue Syrien“ nach der Flucht des gestürzten Präsidenten Baschar al-Assad eine Heimat für alle seine Bürger*innen sein muss und als modernes Staatsmodell auf den Grundlagen der Staatsbürgerschaft aufgebaut werden sollte.
In einer gemeinsamen Erklärung bekräftigten die Kirchenvertreter, dass sich Syrien in einer „neuen Geburtsstunde“ befinde, während dieser „historischen Phase“ nach dem Sturz des Assad-Regimes. Sie betonten zudem die Notwendigkeit, „sich einer Kultur des Dialogs und der Offenheit füreinander zu verpflichten“. Weiter heißt es in der Erklärung, diese Phase erfordere „Demut, Mut und Entschlossenheit, um das Syrien der Zukunft aufzubauen“. Sie sei eine Zeit, die alle dazu aufrufe, sich „weise, besonnen und vorausschauend“ zu verhalten und nicht auf fruchtlose Auseinandersetzungen, Populismus oder Isolation hereinzufallen.
Die Kirchenoberhäupter erklärten: „Wir Christinnen und Christen haben in dieser Phase eine wichtige und zentrale Rolle zu erfüllen, indem wir uns mit allen Kräften am Wiederaufbau dieses Landes beteiligen.“ Abschließend hielten sie fest: „Wir sind uns der spirituellen, moralischen und nationalen Verantwortung bewusst, stets die Stimme der Wahrheit zu erheben, die Würde des Menschen unter allen Umständen zu verteidigen und entschieden die Wege von Demokratie, Freiheit, Unabhängigkeit und Frieden zu unterstützen, welche die Rechte und die Würde aller Syrerinnen und Syrer gewährleisten.“
Aussagen der neuen syrischen FührungLeitung der HTS und Oberkommandierender der neuen syrischen Verwaltung, Ahmad Al-Scharaa, sagte im saudischen Fernsehsender „Al-Arabiya“:
- Wir haben bei der Befreiungsoperation darauf geachtet, dass es weder Opfer noch Vertreibungen gibt.
- Wir haben uns sehr bemüht, den Machtwechsel reibungslos zu gestalten.
- Die Befreiung Syriens garantiert die Sicherheit der Region, des Golfgebiets und Syriens selbst für die kommenden 50 Jahre.
- Wir sind weder in Teheran noch in den Süden des Libanon eingezogen, sondern in unsere eigenen Städte und Dörfer.
- Ich sehe mich nicht als den Befreier Syriens – alle, die Opfer gebracht haben, waren am Befreiungsprozess beteiligt.
- Mehrere politische Etappen werden dem Auswahlprozess des Präsidenten vorausgehen. Das Ausarbeiten einer neuen Verfassung kann etwa drei Jahre dauern. Wir streben eine Verfassung an, die möglichst lange Bestand hat. Das ist ein anspruchsvolles und langwieriges Vorhaben. Die Abhaltung von Wahlen könnte sich um vier Jahre verzögern. Jede korrekte Wahl erfordert eine umfassende Volkszählung.
- Die Nationale Dialogkonferenz wird spezialisierte Ausschüsse bilden und Abstimmungen beinhalten.
- Syrien benötigt ungefähr ein Jahr, damit die Bürger grundlegende Veränderungen bei den öffentlichen Diensten spüren.
- Der Vorwurf, dass wir Personal nur aus einer politischen Strömung einsetzen, ist berechtigt, da die jetzige Phase Geschlossenheit verlangt. Die derzeitige Form der Ernennungen war eine Notwendigkeit dieser Phase und keine Ausgrenzung.
- Wir werden bei der Nationalen Dialogkonferenz die Auflösung von Hay’at Tahrir asch-Scham (HTS) bekanntgeben.
- Die Vereinten Nationen haben es nicht geschafft, auch nur einen Gefangenen freizulassen oder einen einzigen Flüchtling zurückzubringen. Das syrische Volk hat sich selbst gerettet. Wir werden die Syrer nicht in die Ausgangssituation vor dem Konflikt zurückversetzen. Die UN-Mission spielt eine Rolle, hat das Problem jedoch nicht gelöst.
- Wir werden Syrien vor jeglichen politischen Streitigkeiten bewahren. Unser Ziel ist Entwicklung und Wirtschaft.
- Syrien wird niemandem Unannehmlichkeiten bereiten.
- Wir werden diese Übergangsphase mit einer staatlichen Denkweise gestalten.
- Die jüngsten saudischen Erklärungen zu Syrien sind sehr positiv. Saudi-Arabien strebt Stabilität in Syrien an. Saudi-Arabien hat große Investitionschancen in Syrien. Ich bin stolz auf alles, was Saudi-Arabien für Syrien getan hat. Saudi-Arabien wird eine große Rolle in der Zukunft Syriens spielen.
- Ich hoffe, dass der Iran seine Interventionen in der Region überdenkt. Diese Phase erfordert, dass der Iran seine Politik neu bewertet. Wir haben unsere Pflicht als Staat gegenüber den iranischen Einrichtungen erfüllt, trotz aller Wunden.
- Das Recht auf Demonstrationen, ohne die Institutionen zu beschädigen, steht allen Gesellschaftsgruppen zu. Das Demonstrationsrecht ist ein legitimes Recht jedes Bürgers, um seine Meinung zu äußern.
- Das syrische Verteidigungsministerium wird die kurdischen Streitkräfte in seine Reihen aufnehmen. Die Kurden sind ein integraler Bestandteil der syrischen Gesellschaft.
- Wir werden nicht zulassen, dass Syrien Ausgangspunkt für PKK-Angriffe wird.
- Es wird keine Teilung Syriens geben – weder auf irgendeine Art noch in Form einer Föderalisierung.
- Wir verhandeln mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), um die Krise im Nordosten Syriens zu lösen.
- Wir hoffen, dass die nächste US-Administration nicht die Politik des Vorgängers fortsetzt. Wir hoffen, dass die Regierung von Trump die Sanktionen gegen Syrien aufhebt.
- Wir wollen nicht, dass Russland Syrien auf eine Weise verlässt, die dem Verhältnis nicht gerecht wird. Syrien hat strategische Interessen mit Russland. Russland ist die zweitstärkste Macht der Welt und besitzt großes Gewicht.
- Der Iran hätte sich an die Seite des syrischen Volkes stellen sollen. Wir hatten positive Erklärungen aus dem Iran erwartet.
- Rechtliche Ausschüsse werden über eventuelle Entschädigungsforderungen gegen Staaten oder Gruppen entscheiden.
Ernennung der ersten Frau als Gouverneurin der Syrischen Zentralbank
Die neue Verwaltung in Syrien hat am heutigen Montag Maysa Sabrin zur Gouverneurin der Syrischen Zentralbank ernannt. Damit ist sie die erste Frau überhaupt, die dieses Amt in dem Land bekleidet. Die Ernennung von Sabrin erfolgt vor dem Hintergrund zahlreicher wirtschaftlicher Herausforderungen, mit denen Syrien an mehreren Fronten konfrontiert ist, während die neue Verwaltung bestrebt ist, in dem seit Kriegsbeginn im Jahr 2011 schwer gebeutelten Land für Stabilität zu sorgen.
In der vergangenen Woche hatte die Syrische Zentralbank eine Entscheidung erlassen, die den Erhalt eingehender Überweisungen in Fremdwährungen oder in syrischen Pfund zu den offiziellen Wechselkursen erlaubt, nachdem dies unter dem früheren Regime jahrelang stark eingeschränkt war.
Sabrin, die einen Master-Abschluss in Rechnungswesen besitzt, tritt damit die Nachfolge von Muhammad Issam Hazeema an, den Assad im Jahr 2021 zum Gouverneur der Zentralbank ernannt hatte. Zuvor war sie als erste stellvertretende Gouverneurin der Zentralbank tätig, leitete die Abteilung für Bürokontrolle und war seit 2018 als Vertreterin der Zentralbank Mitglied des Verwaltungsrats der Wertpapierbörse von Damaskus, wie syrische Medien berichten.