Heute ist ein historischer Tag: Syrien ist frei von dem al-Assad Regime. Endlich, nach mehr als 54 Jahren. Ja, ich sage, Syrien ist frei, nach all den täglichen Albträumen, nach der Angst vor dem Unrechtsregime, vor dem Geheimdienst und den Foltergefängnissen. Mehr als 13 Jahren nach der Revolution, nach blutigen Kämpfen, nach vielen Hunderttausenden Toten, Verschwundenen und Vertriebenen. Nach Belagerungen, Hunger, nach unzähligen Tränen unserer Mütter und Väter.
Syrien ist frei. Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Tag erleben würde. Heute, der 8. Dezember ist ein Tag der Freiheit, den wir jedes Jahr feiern werden.
Ich sehe die Bilder und Videos von den Menschen in Syrien, wie sie auf die Straßen strömen und feiern. Frauen und Männer laufen durch den Palast der ehemaligen Diktatorenfamilie und machen Witze. Frauen und Kinder (!) werden aus den bluttriefenden Gefängnissen freigelassen und fragen ihre Befreier: Was ist passiert? Es sind Szenen, die vielen Syrer*innen weltweit Tränen in die Augen treiben.
Gleichzeitig fragen viele, im In- und Ausland: was passiert als Nächstes? Ist eine Übernahme durch islamistische Gruppen wirklich eine gute Entwicklung? Der Blick von außen sucht die „Guten“ und versteht nicht, dass die große Mehrheit von Syrer*innen aller Ethnien und Religionen heute feiern.
Ich möchte nicht wegwischen, was in den letzten Jahren passiert ist. Natürlich haben die Gruppen, die seit Jahren gegen das Assad Regime gekämpft haben, Verbrechen und Fehler begangen. Wenn Du Syrerin bist, oder Dich schonmal mit einer syrischen Person über das Thema unterhalten hast, weißt Du, wie viele Fehler seit 2011 gemacht wurden. Das Regime und die Assad-Regierung hingegen haben alles getan, was Diktatoren üblicherweise tun. Auch dazu hat jede Syrerin eine Geschichte, und das nicht erst seit 2011. Und doch hat das syrische Volk es geschafft, den Diktator zu stürzen.
Und das alles, nachdem so viele Menschen jede Hoffnung verloren hatten. Ich kann hier nicht jedes Detail der letzten Jahre wiedergeben, aber für mich persönlich war viel verloren, als Assad die vermeintliche „rote Linie“ von dem ehemaligen US-Präsidenten Obama überschritt und chemische Waffen gegen seine eigene Bevölkerung einsetzte. Damals, 2013, war ich schwer enttäuscht, dass sich die USA nicht mehr einmischen wollte. Heute kann ich sagen: Ich bin froh, dass das Assad Regime nicht von einer ausländischen Kraft besiegt wurde, sondern vom syrischen Volk selbst. Die Hoffnung ist nun, dass die Syrerinnen und Syrer ihr Land selbst regieren und gemeinsam eine neue, freie Regierung aufbauen werden.
Wo genau sich der ehemalige Machthaber Bashar al-Assad und seine Familie jetzt aufhalten, ist unklar. Es gibt Gerüchte, dass er in den frühen Morgenstunden das Land verlassen haben soll. Bemerkenswert ist, dass der syrische Premierminister, Ghazi al-Jalali nicht geflohen ist. Er hielt gegen 4 Uhr morgens eine kurze Rede, in der er die Regierungsinstitutionen an die Rebellen übergab. Dadurch herrscht — bis jetzt — kein völliges Chaos. Es gibt aber erste Berichte von Plünderungen von Banken und es ist ebenfalls noch nicht klar, wer in Damaskus jetzt das Sagen hat. Weitere Fragen zu den nächsten Tagen habe ich weiter unten gesammelt.
Wer die Bedeutung dieses Tages besser verstehen will, sollte sich die Videos aus den geöffneten Gefängnissen ansehen. Besonders die Aufnahmen aus dem Saydnaya Gefängnis waren für viele Syrer*innen schlimmer als jeder Horrorfilm. Man nannte diesen Ort ein Schlachthaus für Menschen. Allein der Name ist für uns ein Synonym für Erniedrigung, für unsagbare Folter und Massenhinrichtungen durch Assads Soldaten.
Nun sind auch die dort gefangenen Menschen endlich frei. Es gibt Videoaufnahmen von Frauen, die mit ihren Kleinkindern befreit werden. Viele, besonders die älteren Frauen, trauen sich in den Aufnahmen nicht heraus, sie fragen immer wieder „was ist passiert, wo sind wir?“ So hat das Assad-Regime Hunderttausende Familien leiden lassen, und über 50 Jahre lang das ganze Land zu einem riesigen Gefängnis gemacht.
Syrien ist frei, wir müssen keine Albträume mehr vor Assads Gefängnissen und Geheimdiensten haben. Wir sind endlich frei! Ich habe mit vielen Freunden gesprochen, die in Deutschland leben. Ich fragte sie, ob sie nach Syrien zurückkehren möchten, jetzt nach Assads Sturz. Viele sagten: Ja, auf jeden Fall. Syrien braucht seine Menschen, um es wieder aufzubauen. Das zeigt sich auch an den Grenzen zum Libanon, zu Jordanien und zur Türkei, wo tausende Syrer*innen in ihre Häuser und ihre Heimat zurückkehren wollen – noch unsicher, was die Zukunft bringt, aber mit dem Optimismus, dass es besser als unsere Vergangenheit mit Assad sein wird.
Auch ich denke seit gestern darüber nach, nach Syrien zurückzukehren. In mein altes Zuhause, um meine Familie wiederzusehen, um die vertrauten Orte zu besuchen. Doch natürlich sind die Fragen und die Zweifel groß, vor allem, nachdem ich den Beitrag eines deutsch-syrischen Journalisten gesehen habe. Er war vor wenigen Tagen im Norden Syriens, um eine Reportage über die aktuelle Lage zu drehen. Er schrieb auf Instagram, dass er sich in Syrien nun fremd fühlt und lieber nach Hamburg zurückkehren möchte, wo er eine neue Heimat gefunden hat.
Sehr viel wird in den nächsten Tagen entschieden werden. Mehr dazu weiter unten. Aber wir hoffen von ganzem Herzen, dass Syrien endlich zu seinen Söhnen und Töchtern zurückkehrt und sie gemeinsam ein neues, freies Syrien aufbauen können – mit Arabern, Kurden, Turkmenen, Tscherkessen, Aramäer und Assyrer; mit Sunniten, Schiiten, Alawiten, Drusen, Jesiden, Ismailiten, Murshidi, orthodoxe und katholische Christen; mit allen Generationen, mit Frauen und Männern; mit Einheimischen, Migranten, Reichen und Armen.
Heute wird Syrien neu geboren, mit der Hoffnung auf die Zukunft.
Danke, dass Du dabei bist. Falls Du neu dazu gekommen bist, bitte fülle bitte diese kurze Umfrage aus
Zusammenfassung der bisherigen Entwicklungen
Falls Du die Entwicklungen der letzten elf Tage nicht so intensiv verfolgt hast, möchte ich Dir hier eine Zusammenfassung geben. Sie ist so kurz wie möglich, aber so lange wie nötig, hoffe ich …
- Am 27. November startete eine lose Koalition syrischer Oppositionsgruppen eine Offensive. Angeführt von der Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und unterstützt von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalarmee (SNA), begann die Offensive in den Gouvernements Idlib und Aleppo. Es war das erste Mal seit dem Waffenstillstand von Idlib im März 2020, dass Rebellen wieder eine umfassende Militäroffensive starteten. Mehr Informationen zu HTS kannst Du hier, in der 4. Folge dieses Newsletters lesen.
- Am 29. November rückten HTS und später auch die Demokratischen Kräfte Syriens (Abkürzung des engl. Namens: SDF, das kurdisch-syrische Militärbündnis angeführt von der PKK-Schwesterorganisation YPG) weiter in Richtung Aleppo, der zweitgrößten Stadt des Landes. In den frühen Stunden des 30. November war der Großteil der Stadt erobert, während die regierungstreuen Soldaten entweder desertierten, oder flüchteten. Bis zum Abend war auch der Flughafen Aleppo eingenommen, nachdem sich SDF-Truppen zurückgezogen hatten.
- Am Abend des 30. November rückten von HTS angeführte Rebellen ebenfalls im Gouvernement Hama sehr schnell vor und eroberten dutzende Städte und Dörfer im Umland. Parallel dazu fingen die SNA und SDF an, einander zu bekämpfen bzw. die SNA griff Versorgungslinien der SDF an.
- Am 1. Dezember flog Russland Luftangriffe auf kürzlich von den Rebellen eroberte Orte, unter anderem auf ein Flüchtlingslager in Idlib und auf das Universitätskrankenhaus in Aleppo.
- Am Abend des 2. Dezembers fingen die bislang heftigsten Kämpfe im Norden der Region Hama an. Bei Luftangriffen und Drohnenbeschuss sowohl von russischer als auch von Rebellen-Seite starben mehrere Zivilist*innen. Im Laufe der nächsten drei Tage intensivierten sich die Kämpfe rund um die Stadt Hama und die umliegenden Dörfer.
- Am 5. Dezember drangen die Rebellen in den nordöstlichen Teil der Stadt Hama ein, während es im Osten der Stadt zu Luftangriffen der syrischen Regierung kam. Bis zum Nachmittag hatten die HTS-geführten Rebellen die volle Kontrolle über Hama. Wieder zogen sich Regierungsarmeen zurück, oder die Soldaten flüchteten von der Armee. In einer Erklärung begründete die syrische Regierung ihren Rückzug aus Hama mit der „Wahrung des Lebens von Zivilisten“. Ich habe über die Geschichte und Symbolik der Stadt Hama hier mehr geschrieben.
- Am 5. und 6. Dezember fingen die Entwicklungen dann an, sich immer schneller zu überschlagen. Im Norden rückten die Rebellen auf die Region um Homs zu, in den südlichen Städten Daraa und as-Suwaida demonstrierten nicht-islamistische Gruppen.
- Am Abend des 5. Dezember betraten die Rebellen im Norden die Stadt Salamiyah kampflos, nachdem sie eine Einigung mit den Stadtältesten und dem örtlichen ismailitischen Rat erzielt hatten. Zeitgleich bombardierten russische Flugzeuge die Hauptbrücke zwischen Homs und Hama, um den Vormarsch der Rebellen zu verlangsamen. Vergeblich, da die Rebellen im Laufe des 6. Dezembers fünf weitere Städte einnahmen und sich den Randbezirken von Homs näherten.
- Der Iran begann in den frühen Morgenstunden des 6. Dezember damit, sein Personal und IRGC-Stützpunkte aus Syrien abzuziehen.
- Am Abend des 6. Dezember 2024 eroberten die Rebellen im Süden die Stadt as-Suwaida. Auf Englisch werden diese Rebellen als “Southern Front” beschrieben, sie sind eine lose Allianz aus über 50 Rebellengruppen, die teilweise mit der Freien Syrischen Armee (FSA) verbunden sind.
- Am 6./7. Dezember brachten Gruppen die südliche Stadt Daraa unter ihre Kontrolle, während SDF-Truppen die Stadt Deir ez-Zor im Nordwesten einnahmen. Parallel dazu eroberte die FSA (von den Vereinigten Staaten unterstützt) von at-Tanf aus die Kontrolle über die historische Stadt Palmyra.
- Am 7./8. Dezember wurde deutlich, dass das syrischen Militär Homs verlassen hatte. Damit wurden die Assad-Truppen, einschließlich der in Damaskus verbliebenen Soldaten, effektiv von der syrischen Westküste abgeschnitten, an der sich die russischen Stützpunkte des Landes befinden.
- Der Fall von Damaskus war zu diesem Zeitpunkt absehbar. Im Laufe des 7. Dezembers waren die Kämpfe um den Stadtkern Homs und die umliegenden Städte vor Damaskus konzentriert. In der sogenannten Rif Dimashq Region wurden immer mehr Orte von dem syrischen Militär verlassen, inkl. Militärstützpunkte, womit die Rebellen bereits bis zu 10km vor den Toren standen.
- Am frühen Morgen des 8. Dezembers wurde gemeldet, dass Rebellen Damaskus eingenommen hatten. Die Meldungen kamen Schlag auf Schlag: Gefängnisse befreit, Assad sei geflüchtet, Menschenmassen, die auf den Straßen feierten. Die offizielle Meldung kam am Vormittag, als die Führung der syrischen Armee ihren Offizieren mitteilte, dass die Regierung Assad beendet sei und Ministerpräsident al-Jalali erklärte, er sei bereit, „mit jeder vom Volk gewählten Führung zusammenzuarbeiten“.
Fragen für die nahe Zukunft
- Die Situation zwischen den Kurd*innen, der SDF und der SNA bleibt unklar. Welche Rolle wird der nächste US-Präsident für die Kurd*innen in Syrien spielen? Wird die türkische Regierung auf ihre bisherigen Positionen und Kämpfe gegen die SDF beharren?
- Was sind die Folgen für das russische Regime, das fast zehn Jahre in das gestürzte Assad-Regime investiert hat? Werden sie sich an den Entwicklungen beteiligen?
- Welche Rollen möchten die arabischen Länder einnehmen? Bisher haben sich Ägypten, Saudi-Arabien, Qatar, Irak und Jordanien an dem Doha Prozess beteiligt. Werden sie ein freies Syrien akzeptieren?
- Wird es den Rebellengruppen gelingen, sich an einen Tisch zu versammeln und eine politische Lösung für Syrien zu finden?
- Wie wird es der kommenden Regierung gelingen, die unterschiedlichen Rebellengruppen wieder zu entwaffnen? Wird es Racheakte oder Gewalt gegen die Bevölkerung geben? Insbesondere gegen Minderheitsgruppen, deren Anführer sich in den letzten Jahren eher pro-Assad positioniert hatten.
- Wo ist Bashar al-Assad? Ist er noch am Leben?
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