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Assad gestürzt: Syrien ist frei

Nach mehr als 50 Jahren Diktatur ist das Assad-Regime gestürzt. Syrien feiert an diesem historischen Tag seine Befreiung.

Assad gestürzt: Syrien ist frei
Fotograf*in: Nasser Alzayed

Heute ist ein historischer Tag: Syrien ist frei von dem al-Assad Regime. Endlich, nach mehr als 54 Jahren. Ja, ich sage, Syrien ist frei, nach all den täglichen Albträumen, nach der Angst vor dem Unrechtsregime, vor dem Geheimdienst und den Foltergefängnissen. Mehr als 13 Jahren nach der Revolution, nach blutigen Kämpfen, nach vielen Hunderttausenden Toten, Verschwundenen und Vertriebenen. Nach Belagerungen, Hunger, nach unzähligen Tränen unserer Mütter und Väter.

Syrien ist frei. Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Tag erleben würde. Heute, der 8. Dezember ist ein Tag der Freiheit, den wir jedes Jahr feiern werden.

Ich sehe die Bilder und Videos von den Menschen in Syrien, wie sie auf die Straßen strömen und feiern. Frauen und Männer laufen durch den Palast der ehemaligen Diktatorenfamilie und machen Witze. Frauen und Kinder (!) werden aus den bluttriefenden Gefängnissen freigelassen und fragen ihre Befreier: Was ist passiert? Es sind Szenen, die vielen Syrer*innen weltweit Tränen in die Augen treiben.

Gleichzeitig fragen viele, im In- und Ausland: was passiert als Nächstes? Ist eine Übernahme durch islamistische Gruppen wirklich eine gute Entwicklung? Der Blick von außen sucht die „Guten“ und versteht nicht, dass die große Mehrheit von Syrer*innen aller Ethnien und Religionen heute feiern.

Ich möchte nicht wegwischen, was in den letzten Jahren passiert ist. Natürlich haben die Gruppen, die seit Jahren gegen das Assad Regime gekämpft haben, Verbrechen und Fehler begangen. Wenn Du Syrerin bist, oder Dich schonmal mit einer syrischen Person über das Thema unterhalten hast, weißt Du, wie viele Fehler seit 2011 gemacht wurden. Das Regime und die Assad-Regierung hingegen haben alles getan, was Diktatoren üblicherweise tun. Auch dazu hat jede Syrerin eine Geschichte, und das nicht erst seit 2011. Und doch hat das syrische Volk es geschafft, den Diktator zu stürzen.

Und das alles, nachdem so viele Menschen jede Hoffnung verloren hatten. Ich kann hier nicht jedes Detail der letzten Jahre wiedergeben, aber für mich persönlich war viel verloren, als Assad die vermeintliche „rote Linie“ von dem ehemaligen US-Präsidenten Obama überschritt und chemische Waffen gegen seine eigene Bevölkerung einsetzte. Damals, 2013, war ich schwer enttäuscht, dass sich die USA nicht mehr einmischen wollte. Heute kann ich sagen: Ich bin froh, dass das Assad Regime nicht von einer ausländischen Kraft besiegt wurde, sondern vom syrischen Volk selbst. Die Hoffnung ist nun, dass die Syrerinnen und Syrer ihr Land selbst regieren und gemeinsam eine neue, freie Regierung aufbauen werden.

Wo genau sich der ehemalige Machthaber Bashar al-Assad und seine Familie jetzt aufhalten, ist unklar. Es gibt Gerüchte, dass er in den frühen Morgenstunden das Land verlassen haben soll. Bemerkenswert ist, dass der syrische Premierminister, Ghazi al-Jalali nicht geflohen ist. Er hielt gegen 4 Uhr morgens eine kurze Rede, in der er die Regierungsinstitutionen an die Rebellen übergab. Dadurch herrscht — bis jetzt — kein völliges Chaos. Es gibt aber erste Berichte von Plünderungen von Banken und es ist ebenfalls noch nicht klar, wer in Damaskus jetzt das Sagen hat. Weitere Fragen zu den nächsten Tagen habe ich weiter unten gesammelt.

Wer die Bedeutung dieses Tages besser verstehen will, sollte sich die Videos aus den geöffneten Gefängnissen ansehen. Besonders die Aufnahmen aus dem Saydnaya Gefängnis waren für viele Syrer*innen schlimmer als jeder Horrorfilm. Man nannte diesen Ort ein Schlachthaus für Menschen. Allein der Name ist für uns ein Synonym für Erniedrigung, für unsagbare Folter und Massenhinrichtungen durch Assads Soldaten.

Nun sind auch die dort gefangenen Menschen endlich frei. Es gibt Videoaufnahmen von Frauen, die mit ihren Kleinkindern befreit werden. Viele, besonders die älteren Frauen, trauen sich in den Aufnahmen nicht heraus, sie fragen immer wieder „was ist passiert, wo sind wir?“ So hat das Assad-Regime Hunderttausende Familien leiden lassen, und über 50 Jahre lang das ganze Land zu einem riesigen Gefängnis gemacht.

Syrien ist frei, wir müssen keine Albträume mehr vor Assads Gefängnissen und Geheimdiensten haben. Wir sind endlich frei! Ich habe mit vielen Freunden gesprochen, die in Deutschland leben. Ich fragte sie, ob sie nach Syrien zurückkehren möchten, jetzt nach Assads Sturz. Viele sagten: Ja, auf jeden Fall. Syrien braucht seine Menschen, um es wieder aufzubauen. Das zeigt sich auch an den Grenzen zum Libanon, zu Jordanien und zur Türkei, wo tausende Syrer*innen in ihre Häuser und ihre Heimat zurückkehren wollen – noch unsicher, was die Zukunft bringt, aber mit dem Optimismus, dass es besser als unsere Vergangenheit mit Assad sein wird.

Auch ich denke seit gestern darüber nach, nach Syrien zurückzukehren. In mein altes Zuhause, um meine Familie wiederzusehen, um die vertrauten Orte zu besuchen. Doch natürlich sind die Fragen und die Zweifel groß, vor allem, nachdem ich den Beitrag eines deutsch-syrischen Journalisten gesehen habe. Er war vor wenigen Tagen im Norden Syriens, um eine Reportage über die aktuelle Lage zu drehen. Er schrieb auf Instagram, dass er sich in Syrien nun fremd fühlt und lieber nach Hamburg zurückkehren möchte, wo er eine neue Heimat gefunden hat.

Sehr viel wird in den nächsten Tagen entschieden werden. Mehr dazu weiter unten. Aber wir hoffen von ganzem Herzen, dass Syrien endlich zu seinen Söhnen und Töchtern zurückkehrt und sie gemeinsam ein neues, freies Syrien aufbauen können – mit Arabern, Kurden, Turkmenen, Tscherkessen, Aramäer und Assyrer; mit Sunniten, Schiiten, Alawiten, Drusen, Jesiden, Ismailiten, Murshidi, orthodoxe und katholische Christen; mit allen Generationen, mit Frauen und Männern; mit Einheimischen, Migranten, Reichen und Armen.

Heute wird Syrien neu geboren, mit der Hoffnung auf die Zukunft.

Danke, dass Du dabei bist. Falls Du neu dazu gekommen bist, bitte fülle bitte diese kurze Umfrage aus


Zusammenfassung der bisherigen Entwicklungen

Falls Du die Entwicklungen der letzten elf Tage nicht so intensiv verfolgt hast, möchte ich Dir hier eine Zusammenfassung geben. Sie ist so kurz wie möglich, aber so lange wie nötig, hoffe ich …

Fragen für die nahe Zukunft

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