Mit Papier basteln – das ist die große Leidenschaft von Ali Qasemi. Der gelernte Edelsteinschleifer aus der afghanischen Stadt Kandahar leidet unter schweren Depressionen und die Arbeit mit Papier, Schere und dem Geodreieck hilft ihm, ein paar Lichtblicke im sonst eher düsteren Alltag zu sehen. „Wenn ich bastel, dann bin ich wie in einer anderen Welt, es lenkt mich von meinen schweren Gedanken ab, gibt mir ein gutes Gefühl und es tut mir gut, mich darauf zu konzentrieren“, beginnt Ali zu erzählen.
Traumatische Erfahrungen
Ali hat in seiner Heimat Afghanistan viel Schlechtes, viel Traumatisches erlebt, musste mit ansehen, wie sein Onkel und ein älterer Bruder von den Taliban ermordet wurden, hat unmittelbare Gewalt erfahren. Es sind Bilder, die ihn nicht mehr loslassen, die sich immer wieder in sein Gedächtnis drängen, die jeden Tag präsent sind.
Im Oktober 2008 flieht Ali zunächst nach Norwegen, wo er fünf Jahre in einer Asylantenunterkunft lebt. Doch er kann dort auf Dauer nicht bleiben, sein Asylantrag wird schlussendlich abgelehnt und Ali wird weiter nach Deutschland geschickt. Die ständige Ungewissheit, wie es zukünftig für ihn weitergehen soll, wird für Ali bald unerträglich.
In der Psychiatrie
Er hat permanent Angst, dass die Behörden ihn zurück nach Afghanistan schicken, schläft schlecht, hat Alpträume, ist unruhig, gestresst und die Depressionen werden immer stärker. „Diese Unsicherheit war für mich nur sehr schwer zu ertragen und war sehr besorgt, dass ich wieder zurück in mein Heimatland muss, wo Krieg herrscht, wo ich nicht sicher bin“, ergänzt Ali.
In Deutschland wird Ali zunächst in einem Asylantenheim in Ludwigslust untergebracht, wo er sich mit anderen Geflüchteten ein Zimmer teilt – das ist im Mai 2014. Im August desselben Jahres sind seine Depressionen so stark, dass Ali versucht, sich das Leben zu nehmen. Doch er hat Glück, seine Mitbewohner finden ihn gerade noch rechtzeitig und alarmieren den Rettungswagen. Ali wird in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert, wo er ganze vier Wochen bleibt.
Ali berichtet: „Die Zeit dort war komisch, da waren viele andere, psychisch kranke Menschen, viele ziemlich zugedröhnt mit Tabletten, einige waren wie ich depressiv und suizidal, andere hatten beispielsweise Schizophrenie oder eine Borderline-Störung. Aber ich bin dort erstmal zur Ruhe gekommen, wurde medikamentös neu eingestellt.“ Nach einem Monat wurde Ali dann auf die offene Station verlegt, wo er bis zum November 2014 blieb, an Gruppen- und Einzeltherapien teilnahm und sich langsam erholte. Besonders gut gefiel ihm die Ergotherapie, wo er das Basteln mit Papier wieder für sich entdeckte.
Erinnerungen an die Kindheit
„Die Ergotherapie war in dieser Zeit für mich immer ein Lichtblick, es hat wirklich Spaß gemacht, aus Papier filigrane Schachteln, Gebäude oder auch bunte Geschenkverpackungen herzustellen. Das Basteln beruhigt mich, gibt mir ein gutes Gefühl und vor allem lenkt es mich von meinen Depressionen ab. Und es erinnert mich an meine Kindheit“, ergänzt Ali.
Und Ali hat noch einmal Glück: Die Schelfgemeinde in Schwerin bot ihm von November 2014 bis Juli 2015 Kirchenasyl. In der Schelfgemeinde lernte Ali Annemarie Steinat und Edgar sowie Sabine Hummelsheim kennen. Die drei unterstützen den Afghanen bis heute bei bürokratischen Angelegenheiten, wie beispielsweise bei Arzt- und Anwaltsbesuchen. Und sie haben ihm geholfen, eine eigene Wohnung und eine berufliche Tätigkeit zu finden. Mittlerweile arbeitet Ali in Teilzeit bei einem Malerbetrieb der Dreescher Werkstätten, einer Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen.
Einsamkeit belastet
„Ich bin den Dreien wirklich dankbar für ihre Hilfe. In meiner Wohnung ist es nun wesentlich besser, als im Asylantenheim oder im Kirchenasyl, und es ist ein weiterer Schritt in Richtung Selbstständigkeit. Aber ich fühle mich oft einsam und ich vermisse meine Familie. Meine Mutter und meine Geschwister habe ich zuletzt 2008 gesehen, sie fehlen mir sehr“, ergänzt Ali.
Mit Annemarie Steinat und der Familie Hummelsheim trifft sich Ali auch heute noch regelmäßig. Sie trinken Kaffee zusammen oder kochen gemeinsam, unterhalten sich, tauschen sich aus. „Für die Zukunft wünsche ich mir einfach nur, dass meine Depressionen verschwinden, wobei ich weiß, dass dies wohl niemals der Fall sein wird. Und trotzdem versuche ich, das Beste aus meiner Situation zu machen“, findet Ali abschließende Worte.

