Sehr geehrte Frau Ministerin Paus, liebe Gäst*innen,
70 Jahre BMFSFJ – herzlichen Glückwunsch! Und ganz herzlichen Dank für Ihren Einsatz für die Gleichstellung der Geschlechter! Wer hätte 1954 gedacht, dass wir uns heute kaum noch ausmalen können, dass Frauen einmal nicht eigenständig ein Bankkonto eröffnen durften? Diese ungläubige Empörung über das Unvorstellbare der Vergangenheit verdeutlicht, wie weit wir gekommen sind. Ich freue mich sehr, mit Ihnen diese Errungenschaften feiern zu können.
Unsere Gesellschaft wurde definitiv geschlechtergerechter. Aber wir haben heute ganz neue Herausforderungen. Wir wurden älter. Und wir wurden zwar vielfältiger, aber auch rechter.
Die Durchschnittsdeutsche, die 1954 noch 36 Jahre alt war, ist heute um knapp zehn Jahre gealtert. Auch wenn wir jungen Menschen kontinuierlich zur Minderheit werden, dürfen unsere Ideen und Bedürfnisse nicht gleichlaufend marginalisiert werden! Die Last auf unseren Schultern wird nicht weniger, nur weil wir weniger werden. Im Gegenteil!
In der Kindheit werden die Grundsteine für das spätere Leben gelegt. Aber nicht jedes Kind bekommt das gleiche Gerüst. Struktureller Rassismus zwingt uns migrantisierte Kinder, früher erwachsen zu werden. Unsere Realität ist eine andere, mit zusätzlichen Lasten.
Wir müssen uns mit Dingen beschäftigen, über die sich Kinder eigentlich keine Gedanken machen sollten. So möchten wir verstehen, warum wir von Fremden häufig zuerst auf Englisch statt auf Deutsch angesprochen werden. Wir müssen uns früh mit der Frage nach unserer eigenen Herkunft auseinandersetzen – nicht, weil wir es selbst reflektieren möchten, sondern weil andere es uns aufdrängen und damit unser eigenes Sein, unsere Identität infrage stellen.
Wir verbringen vielleicht nicht alle Nachmittage auf Spielplätzen, sondern manche mit dem Übersetzen amtlicher Briefe – dem Unkindhaftesten überhaupt – und werden so zu care takern unserer eigenen Familien. Vielleicht lernen wir sogar früh, dass wir uns selbst für Süßigkeiten im Cent-Bereich einen Kassenbon geben lassen sollten, damit der Ladendetektiv uns nicht festhält, weil er denkt, der gekaufte Lolli sei geklaut.
Und wir haben existenzielle Sorgen über unsere Zukunft in Deutschland. Seit Januar dieses Jahres, seit der sogenannten „Remigrationskonferenz“ und der Normalisierung rechtspopulistischer Forderungen, seitdem frage ich mich erstmals ernsthaft, ob meine Zukunft hier noch so bedingungslos stattfinden kann, wie ich immer dachte. Wo wäre eigentlich mein Zufluchtsort? Wo könnte ich eines Tages leben, sollte Deutschland nicht mehr mein Zuhause sein können? Ich bin ein Kind der Migration. Menschen, die Migration nicht im Land haben wollen, wollen mich nicht im Land haben.
Ganz ehrlich, ich fühle mich oft machtlos. Dinge, die vor Jahren noch rechte Politiker:innen sagten, bei denen wir empört aufschrien, sind jetzt Teil des normalen Diskurses. Lassen Sie uns bitte vermeiden, dass die Mitte rechte Erzählungen aufnimmt. Dass wir die hart erkämpften Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zunichtemachen. Wir stehen doch eigentlich gemeinsam zusammen für eine diverse, solidarische Gesellschaft. Lassen Sie uns solche Allianzen schmieden! Zum Schutz der Menschenrechte, für Chancengerechtigkeit und dafür, dass jeder Mensch so leben kann, wie er ist.
Wir dürfen uns nicht durch den Ausschluss des vermeintlich Fremden definieren – dadurch verlieren wir mehr als „nur“ uns migrantisierte Menschen: Wir verlieren unsere Diversität. Und Diversität ist eine riesige Bereicherung. Diversität lehrt, verschiedene Blickwinkel einzunehmen. Anpassungsfähig zu sein in Zeiten voller Ungewissheit. Sich mit anderen Standpunkten auseinanderzusetzen. Offen und empathisch zu sein. Diversität ist der Grundpfeiler einer lebendigen Demokratie.
In unserer aktuellen Jugend steckt enormes Potenzial. Wir sind diverser denn je. Unsere Lebensrealitäten haben es uns gelehrt, unseren Platz einzufordern. Und wenn ich mir meine Generation anschaue, dann bin ich hoffnungsvoll. Denn wir sind laut, bereit für unsere Rechte zu kämpfen. Wir sind aktivistisch, engagiert und gehen für Gerechtigkeit auf die Straße. Nutzen Sie dieses Potenzial! Verstehen Sie uns als unhinterfragten Teil der (deutschen) Zukunft. Lassen Sie uns diese Zukunft mitgestalten.
Jeder Mensch ist einmal ein Kind gewesen. Niemand kann beeinflussen, in welchen Verhältnissen die Kindheit gelebt wird. Aber wir haben die Verantwortung, die Startbedingungen jeder Kindheit gerecht zu gestalten. Wir müssen die vielfältigen Realitäten junger Menschen in Deutschland erkennen, anerkennen, und als Ausgangspunkt unserer Bemühungen nehmen.
In 70 Jahren bin ich 95. Ich hoffe sehr, dass Deutschland da noch mein Zuhause ist. Dass meine Kinder und Kindeskinder mehr Möglichkeiten haben. Dass sie frei von fremden Zuschreibungen ihre eigenen Themen setzen können. Vielleicht sind wir sogar ungläubig empört darüber, dass es mal eine Zeit gab, in der nicht alle Kinder wirklich Kinder sein konnten.
Kämpfen wir gemeinsam für diese Zukunft!
Vielen Dank allen, mit denen wir im Vorfeld der Rede gemeinsam sammelten, was uns migrantisierte Jugend und Jugend, die sich gegen Rechts einsetzt, bewegt.