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Berichterstattung über Migration und Flucht - eine Bestandsaufnahme

Berichterstattung über Migration und Flucht - eine Bestandsaufnahme

„Sexualdelikte, Mord, Raub: Die Wahrheit über kriminelle Zuwanderer“ (FOKUS Online), „Nicht mal Schüsse konnten den Messer-Flüchtling stoppen“ (BILD) – Schlagzeilen, die auch 2023 immer noch aufkommen, wenn man sich auf die Suche nach aktuellen Meldungen zu Migration macht. Solche Titel und viele weitere Formen der Berichterstattung über Migration und Flucht werfen viele Fragen zu der Verantwortung der Medien auf.

Fünf Jahre Medienberichterstattung über Flucht und Migration – eine Studie

Die Studie „Fünf Jahre Medienberichterstattung über Flucht und Migration“ der Universität Mainz und der Merkator Stiftung zeigt, dass interessante Entwicklungen in der Art der Berichterstattung über Flucht und Migration zu verzeichnen sind.

Als zentraler Punkt lässt sich feststellen, dass immer seltener und immer negativer über Themen rund um Migration und Flucht berichtet wird. Die Studie stützt sich auf eine Analyse sechs deutscher Leitmedien, darunter Printmedien wie die Frankfurter Allgemeine, die Süddeutsche und die Bild sowie Nachrichtensendungen der Tagesschau, ZDF heute und des Senders RTL. Der untersuchte Zeitraum beläuft sich auf vier Jahre von 2016 bis 2020.

Die Studie zeigt nicht nur, dass die Anzahl der Medienbeiträge zum Thema Flucht drastisch abgenommen hat, sondern auch, dass die Berichterstattung vor allem die Unsicherheiten und Gefahren, die damit in Zusammenhang stehen sollen, herausstellt.

Jeder zehnte der untersuchten Beiträge behandelte dabei Terrorismus oder Flüchtlingskriminalität. Die Beziehung zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Zuwanderern wird zudem häufig als Konflikt inszeniert. Auch die dargestellte Demographie deckt sich hierbei nicht mit den tatsächlichen Zahlen. Überwiegend werden in den Beiträgen, gerade bei Fotos und Videos, Männer gezeigt, trotz dessen im untersuchten Zeitraum Kinder unter vier Jahren die größte Gruppe bei der Erstasylbeantragung darstellten.

Die Berichterstattung folgt vor allem den aktuellen Ereignissen und orientiert sich maßgeblich an politischen Beschlussfassungen. Die Geflüchteten selbst kommen hierbei in der Regel nicht zu Wort und die Geschichten über gelungene Integration bleiben weit zurück hinter den Erzählungen über Schädigungen und Konflikte.

Frames and Biases

Durch die Studie wird klar, dass bestimmte Narrative über Migration und Flucht durch die mediale Berichterstattung entstehen. Es kommt zum Framing. Framing meint hierbei, dass spezifischen Aspekten mehr Raum gegeben wird und dadurch Informationsweitergabe nur in selektiver Weise stattfindet. Wenn dies wiederholt auftritt und man von einem Kommunikationsmuster sprechen kann, führt das in der Folge dazu, dass auch die zukünftige Auswahl von Informationen davon geprägt wird. Man spricht dabei auch von dem „confirmation bias“ oder „Bestätigungsfehler“.

Dieser meint, dass Informationen so ausgewählt werden, dass das eigene Weltbild und die eigenen Erwartungen bestätigt werden. Sowohl Medienschaffende als auch Konsumentinnen können von diesem Bias betroffen sein. Medienschaffende können, bewusst oder unbewusst, bestimmte Perspektiven verstärken oder vernachlässigen, während Konsumentinnen dazu neigen, Medieninhalte auszuwählen, die ihre bestehenden Überzeugungen unterstützen, und andere Meinungen zu ignorieren. Es handelt sich hierbei also um einen Prozess mit nachhaltigen, meinungsbildenden Auswirkungen. Eine dieser Auswirkungen ist die Reproduktion von rassistischen Stereotypen. Dies lässt sich am Beispiel der Berichterstattung über Ausländerkriminalität verdeutlichen.

Reproduktion von Vorurteilen am Beispiel „Ausländerkriminalität“

Ein Rechercheteam von NDR und BR hat eine Datenerhebung durchgeführt, um zu untersuchen, wie die Polizei über die Nationalität von Tatverdächtigen berichtet. Dafür wurden 700 000 Polizeipresse-Meldungen über einen Zeitraum von 6 Jahren erhoben und analysiert. Das Ergebnis: Bei Menschen aus Flucht-Herkunftsländern wird die Nationalität doppelt so oft genannt wie bei deutschen Tatverdächtigen.

Dies wird oft unhinterfragt von den Medien übernommen. Die Überbetonung der Nationalität legt einen Zusammenhang zwischen dieser und der Tat nahe und begünstigt damit die Bildung und Bestätigung bereits bestehender Vorurteile.

In Anbetracht dieser Problematik stellt der Politik- und Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez in seinem Vortrag „Die verhängnisvolle Neigung der Medien … Plädoyer für einen Humanitären Journalismus.“ die Frage nach der Wirksamkeit ethischer Grundsätze in der Berichterstattung, wie sie im Pressekodex repräsentiert werden. Hafez argumentiert, dass die bestehenden ethischen Standards oft nicht ausreichen, um die Fehler in der Berichterstattung zu erfassen.

Am vorhergehenden Beispiel kann man diese These einordnen, denn das begründete öffentliche Interesse, unter welchem die Nennung der Nationalitäten von Tatverdächtigung oft gerechtfertigt wird, ist nicht ausreichend definiert. Für Hafez ist klar, dass die Nennung der ethnischen und religiösen Herkunft nur erfolgen darf, wenn sie in klarem Zusammenhang mit der Tat steht. Dies trifft für die meisten Fälle nicht zu.

Die Forderung nach einem humanitären Journalismus

Kai Hafez plädiert für ein Umdenken im journalistischen Arbeiten und für einen humanitären Journalismus, der sich nicht dem Populismus und den Gesetzen des Marktes unterwirft. Denn die formale Medienethik ist nicht ausreichend gut aufgestellt, um die Bekämpfung des strukturell begründeten Rassismus durch die Art und Weise, wie Diskurs geführt wird, aufzubrechen.

Hierfür formuliert er Kriterien in Anlehnung an den Friedensjournalismus. Darunter die Forderung einer Reform der Berichterstattung über Migration, mehr Ausgewogenheit und Komplexität in der Medienagenda und die Wiederbelebung der Fähigkeit des Journalismus, eigenständig kreativ zu sein und Lösungsansätze zu entwickeln. Bei diesem sensiblen Thema stehen nicht nur die Informationen im Vordergrund, sondern auch das Wohl und die Würde der betroffenen Menschen. Hafez appelliert daher an die Verantwortung der Medien, insbesondere wenn es um Themen wie Migration geht, bei denen Menschenrechte und -leben im Mittelpunkt stehen, eine ausgewogene, ethisch fundierte Berichterstattung zu leisten.

„… diese Schwankungen mögen wir uns bei manchen Themen leisten können, sie sind bei niedrigschwelligen Themen sogar unvermeidlich – wir können und sollten sie uns aber nicht dort erlauben, wo Menschenleben auf dem Spiel stehen.“ (Hafez, 2019)

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