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10 Learnings aus meinen Erfahrungen mit Bestattungen

Im Newsletter „zwischen welten“ schreibt Anjuli über die Themen Sterben und Bestattung, mit Fokus auf die Erfahrungen von Migrant*innen. Diesmal teilt sie ihre Erkenntnisse, die sie durch persönliche Erfahrung gewonnen hat.

10 Learnings aus meinen Erfahrungen mit Bestattungen
Fotograf*in: Anjulia Aggarwal

Ich möchte den letzten Newsletter nicht einfach so stehen lassen. Was ich mit dir geteilt habe, soll in einen Kontext gepackt werden, um von dort aus auf unserer Reise zwischen den Welten weiterzugehen. Heute möchte ich deshalb meine 10 Learnings aus meinen persönlichen Erfahrungen mit Bestattungen an dich weitergeben.

1. Die Bedeutung von Ritualen

Der physische und ritualisierte Umgang mit dem Tod meiner indischen Großmutter hat mich stark beeinflusst. Rituale, die Zusammengehörigkeit, Identitäten und Übergänge markieren, sind in Deutschland nur noch wenig verbreitet, ob am Ende oder zu vielen anderen Zeitpunkten des Lebens. Wir lernen kaum, kleine oder große Abschiede zu verarbeiten, zu spüren und zu betrauern. Es gibt wenig Raum und Austausch darüber. Rituale helfen dabei, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren, den Verlust zu verarbeiten und eine Verbindung zu den Verstorbenen zu bewahren. Hier können wir über Grenzen hinweg voneinander lernen und gemeinsam neu gestalten.

2. Bestattungsgesetze in Deutschland

Die Bestattungsgesetze in Deutschland sind, auch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern, christlich geprägt und veraltet. Sie stellen viele Menschen vor teils unüberwindbare Hürden. Es gibt viele offene Fragen: Wer macht diese Gesetze und wer prüft sie? Im Hinblick auf die im Grundgesetz festgelegten Grundrechte wie Religionsfreiheit (Art. 4) und Würde des Menschen (Art. 1) erleben marginalisierte Personen und Gruppen hier einige Verletzungen.

3. Migrant*innen und Bestattungen

Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte gehören noch immer zu einer marginalisierten Gruppe in unserer Gesellschaft und ihre Bedürfnisse werden von Behörden und Bestattungsinstitutionen wenig beachtet. Auch viele „alternative“ Bestatter*innen und die sogenannte „Death Positivity Bewegung“, die neue Wege in der Bestattungsbranche gehen wollen, scheinen die Interessen migrantischer Communities kaum zu beachten und thematisieren.

4. Wem gehört der Verstorbene?

Ich habe oft das Gefühl, dass in Deutschland verstorbene Personen nicht den Angehörigen gehören, sondern schnell in fremde und verschlossene Hände und Räume kommen. Was passiert mit den Verstorbenen in diesen Räumen? Bestatter*innen nehmen viel Arbeit ab, aber es fehlt an vielen Stellen an Offenheit und Transparenz. Viele Angehörige wünschen sich hier mehr Autonomie und Gestaltungsfreiheit. Das betrifft auch die Räume, in denen wir sterben und Abschied nehmen. Die meisten Menschen sterben in Deutschland in Krankenhäusern, obwohl das die wenigsten wollen. Gerade diese Räume und Infrastruktur sollten für eine würdevolle und angenehme Abschiednahme entsprechend gestaltet werden.

5. Herausforderungen zwischen den Generationen

Viele junge Menschen zweiter und nachfolgender Generationen reagieren offen auf meine Arbeit und Forschung, denn auch sie fragen sich: Wie gehe ich mit der Religion und Kultur meiner Familie um, besonders im Kontext des Todes? Wie bereite ich mich darauf vor und mit wem rede ich darüber, wenn die Eltern nicht offen dafür sind oder ich kaum Zugang zu Wissen und Ressourcen habe? Wie navigiere ich dieses „Zwischen den Welten Sein“-Gefühl? Dafür Räume und Netzwerke zu schaffen, ist eins meiner großen Ziele.

6. Vorbereitung und Vorwissen

In Notsituationen, wie dem Tod eines geliebten Menschen, können Menschen meist nur noch reagieren. Zudem sind Gefühle wie Schuld und Scham in Abschied und Trauer ständige Begleiter. Leider profitieren viele Menschen weltweit von dieser Verletzlichkeit, sowohl in materieller als auch in spiritueller Hinsicht. Der Tod wird in vielen Kontexten als religiöses Machtinstrument missbraucht. Es braucht daher Vorbereitung und -wissen, um in diesen Momenten selbstbestimmt und bewusst Entscheidungen treffen zu können. Und es braucht eine Community oder Personen, die einen emotional und organisatorisch unterstützen.

7. Grauzonen und Macht in der Bestattungsbranche

Es gibt viele sogenannte „Grauzonen“ in der deutschen Bestattungsbranche und -gesetzen. Das bedeutet, vieles ist möglich, was auf den ersten Blick nicht erlaubt ist. Dies ist auch ein häufiger Grund, den viele Bestatter*innen nennen, um am Status quo nichts zu ändern. Die Frage ist aber: Wer hat Zugang zu diesen „Grauzonen“? Denn, wer diese Zonen navigiert, hat die Macht darüber zu entscheiden, wer rein und raus darf.

Gerade marginalisierte Personen und Gruppen bleiben hier ausgeschlossen. Für viele von ihnen ist die Bestattungsindustrie in Deutschland fremd, ein Labyrinth, durch das nur Bestatter*innen führen können. Diese Machtasymmetrie gilt es zu durchbrechen. Wie können wir das erreichen? Indem wir uns Wissen aneignen, neue Formen der Kommunikation nutzen, Netzwerke aufbauen und gemeinsam neue Konzepte entwickeln.

8. Unterschiede in der Trauerkultur

Nach dem Tod meiner Großeltern in Indien verbrachten wir viel Zeit gemeinsam, tauschten Geschichten aus und teilten unsere Trauer. In Deutschland hingegen werden Angehörige in dieser schweren Zeit und vor allem danach häufiger allein gelassen. Größere Familien oder Communities helfen, die Trauer gemeinsam zu tragen. Es besteht ein großer Bedarf daran, Strukturen und Netzwerke sowohl innerhalb als auch über marginalisierte Communities hinaus aufzubauen.

9. Die Rolle von Geschlechtern in Bestattungen

Bestattungen sind weltweit stark von (binären) Geschlechterrollen geprägt. Denn die Bestattungsindustrie in Deutschland ist sehr männlich, und in vielen Kulturen und Religionen sind Frauen von der Teilnahme an Bestattungen ausgeschlossen. Das kann zu Konflikten führen, vor allem wenn es nur weibliche* Nachfahren gibt. Auch queere Personen und Communities stoßen deshalb vielfach auf Hindernisse. Diesem Thema möchte ich in Zukunft mehr Aufmerksamkeit schenken und auch hier im Newsletter behandeln.

10. Wer oder was ist „die Norm“?

Du hast dich beim Lesen meines letzten Newsletters vielleicht bei dem Gedanken ertappt, wie „primitiv“, „grausam“ oder „hart“ die Rituale in Indien sind. Das wurde mir schon mehrfach von westlich geprägten Menschen gespiegelt, als ich ihnen davon erzählt habe. Reflektiere daher einmal, weshalb du so abgeschreckt bist und warum du glaubst, dass deine Lebenswelt als „normal“ gilt und die der anderen nicht. Es kann hilfreich sein, sich mit verinnerlichten, versteckten Rassismen zu beschäftigen. Auch ich tue das.

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